Vorstadtprinzessin
fing an zu weinen.
»Na, wenn das kein gelungener Abend ist«, sagte Lucky.
Sie guckten Leni an, die in Ellerbeks Sessel saß. Ein Häuflein Elend.
Nur noch ihr Haar glänzte wie ein Heiligenschein.
Erstaunlich, so ausgemergelt, wie Leni war.
Lucky nahm sich vor, Lenis Vater anzusprechen, sobald der das nächste Mal in der Werkstatt aufkreuzte. Es musste etwas geschehen.
Kringel war doch auch auf Entzug in Mariahilf.
Nils Freygang hätte sterben können vor Scham. Er hatte noch nie gesehen, wie sich eine Frau derart entblößte. Dass ausgerechnet Tanja es getan hatte, die er gerade zu verehren angefangen hatte, verletzte ihn.
Er war nach der Probe in die Dachwohnung hinaufgestiegen, die er seit einem Jahr bewohnte. Mit Blick auf den Parkplatz von Penny. Wenn er sich weit aus dem Küchenfenster beugte, erhaschte sein Blick auch den Turm der Kirche. Doch er beugte sich selten hinaus.
Freygang stand in der Küche und briet sich ein Spiegelei. Einen grünen Salat dazu, zwei Scheiben Brot. Er aß keine Tiere.
Er hatte noch nie eine Freundin gehabt. Seine Hässlichkeit konnte er keiner zumuten. Doch Tanja hatte ihn angelacht im Lichtgrün.
Nils Freygang setzte sich an den kleinen Holztisch von Ikea und nahm seine einsame Mahlzeit ein. Er hatte große Sorge, nicht mehr singen zu dürfen im Chor. Er war auffällig geworden heute Abend.
Er guckte auf das schwarzweiße Poster, das an der Wand gegenüber hing. Die Silhouette von Manhattan. Auch das von Ikea.
Er wusste nicht, wie sein Leben weitergehen sollte.
Eine kleine Wohnung. Ein kleines Auto. Ein kleines Selbstvertrauen.
Die Welt war zu groß für ihn.
Pas langer Dienstag hatte noch nie so lange gedauert. Theo stieg hinunter in die Küche und fand Ma am Tisch sitzen.
»Kannst du mir sagen, wo er bleibt?«, fragte sie. »Er ist so seltsam in letzter Zeit. Früher war er immer nur hier.«
Theo hätte Ma gerne von Leni erzählt. Von seiner Sorge um sie.
Lucky hatte Leni eben nach Hause verfrachtet. Sie war schrecklich müde geworden, nachdem die Droge nicht mehr wirkte.
»Ich liebe ein Mädchen, das rauschgiftsüchtig ist.«
Nein. Das konnte er nicht sagen. Schon gar nicht seiner Mutter.
»Vielleicht kann Pa es nicht aushalten, dass Annikas Tod kein Geheimnis mehr ist«, sagte Theo. »Das Schweigen hat Pa wohl geholfen, ihren Tod zu verdrängen.« Er hatte das Gefühl, älter zu sein als seine Eltern.
»Bin ich denn ein Leben lang schuldig?«, fragte seine Mutter.
»Nein, Ma.« Theo fühlte sich müde wie Leni.
Das Gerücht fand an einem Freitag ins Lichtgrün. Die Wirtin hörte es von einem Gast, der an ihrem Tresen saß. Der lange Tisch im Garten stand zusammengeklappt an die Hauswand gelehnt.
»Der Sohn vom alten Ellerbek soll gesehen worden sein.«
»Geht es etwas genauer?«, hatte Gila gefragt.
»Ein graublonder Kerl mit einem Segeltuchbeutel über der Schulter. So einen haben doch die Seeleute«, sagte der Gast.
»Seemannslieder hat er nicht gesungen?« Gila klang genervt.
»Ich war selbst nicht dabei.« Der Gast musterte Gila aufmerksam. »Das hellrote Haar hat mir an Ihnen besser gefallen.«
Das Gerücht hielt sich. Doch Gila Lichtgrün fand keinen, der Jan Ellerbek mit eigenen Augen gesehen hatte. Sie sprach Lucky bei der ersten Gelegenheit darauf an. »Weiß dein Freund was davon?«
Theo wusste von nichts. Ma stand in der Küche und putzte Pilze. Pfifferlinge, Maronen, Rotkappen. Ein paar Steinpilze. Sie hatte den besten Blick auf Ellerbeks Haus. Doch drüben war alles still.
Die Pilze hatte Pa im Wald gesammelt. Im holsteinischen Teil. Im kleinen Wald gab es hier und da einen Gallertpilz, der an Baumstümpfen wuchs und dabei war, das Holz zu zersetzen.
Pa hatte sich krankschreiben lassen. Ma erinnerte sich nicht, dass das schon mal vorgekommen war. Störung des vegetativen Nervensystems.
Theos Vater klagte über Kopfschmerzen. Doch sein Arzt war nicht der alte Bunsen. Dem traute Pa nicht.
»Das sind die letzten Pilze«, sagte Pa, als sie die Steinpilze mit Nudeln aßen. »Es ist zu kalt geworden.«
»Würdet ihr Jan Ellerbek erkennen?«, fragte Theo.
Pa und Ma guckten von ihren Tellern auf.
»Er soll gesehen worden sein«, sagte Theo.
»Dass du mich mal besuchst.« Lucky wischte sich die ölverschmierten Hände ab.
»Ich dachte, am letzten Tag der Ferien sehe ich dir mal bei der Arbeit zu.« Theo fing den Blick des Werkstattmeisters auf.
»Quatschen könnt ihr in Luckys Pause«, sagte der.
Lucky sah zu der großen Uhr.
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