Vorstadtprinzessin
bleibst unten.«
Lucky stellte die Leiter auf.
Er sah Tanja aus der Kirche kommen. Nein. Nichts zwang ihn, ihr etwas anzutun. Abstreifen, den Gedanken. Er atmete tief ein.
Es hatte ohnehin keinen Zweck heute Abend. Sie wandte sich nach rechts zum Wald hin und wäre bald im Haus verschwunden.
Doch Tanja zögerte. Sie zögerte unter einer Straßenlampe und stand in deren Licht. Er lächelte und konnte doch nicht das Zittern weglächeln, das seinen ganzen Körper durchlief. Tanja hatte sich entschieden, nach links zu gehen. Dem Ortskern zu, der an einem Sonntagabend im Oktober nichts anderes als Ödnis war.
Er ging an der leeren Terrasse des Tre Castagne vorbei. Die Jahreszeit hatte ihre Vorteile. Keiner auf den Straßen. Alle im sicheren Hort.
Vor seinen Füßen lag eine der letzten Kastanien. Er bückte sich.
Tanjas Schritte wurden schneller. Wohl kaum aus Angst. Er folgte ihr in großem Abstand, sie konnte ihn nicht bemerkt haben. Sie hatte es eilig. Eilig, zu irgendeinem Vergnügen zu kommen.
Hatte sie vor, zum Griechen zu gehen? Der lag am anderen Ende des Ortes. Vielleicht nahm sie die Abkürzung.
Kopfsteinpflaster. Sie stakste darauf herum. Hier standen ein paar altersschwache Häuser, die auf ihren Abriss warteten. Alles dunkel.
Welch ein Glück für ihn, dass sie die Abkürzung genommen hatte. Trotz der dünnen steilen Absätze unter ihren Schuhen. Tanja stolperte und er kam ihr näher. Jetzt hatte sie ihn gehört.
Er blickte sich um. Keiner hinter ihm. Nur Tanja da vorne. Sie zog ihre Schuhe aus und fing an zu laufen. Ihre dünnen Strümpfe würden bald durchgelaufen sein, dachte er. Er holte sie ein.
Tanja blieb jäh stehen und drehte sich um.
»Du?«, fragte sie und lachte erleichtert auf. Dann sah sie in seine Augen und ihr Gesicht verlor alle Farbe.
Theo war auf den ersten Sprossen der Leiter, als Lucky das Fenster unter dem Dach erreichte und seine Hand durch das große Loch im Glas steckte. »Schneid dich bloß nicht«, sagte Theo.
Lucky leuchtete in das Zimmer hinein.
»Trau dich mal hoch«, sagte er, »lohnt sich.«
»Was siehst du?«, fragte Theo.
Doch Lucky hatte schon die beiden Flügel des Fensters geöffnet und stieg in das Zimmer. Die Leiter wackelte, und Theo krampfte sich an den Sprossen vor ihm fest.
»Geht doch«, sagte Lucky, als Theo durch das Fenster kletterte. Er leuchtete mit der Taschenlampe die Tapeten ab und lenkte das Licht dann in die Mitte des Zimmerchens.
»Da ist der Koffer«, sagte Theo.
»Ist es der, den du vermisst?«, fragte Lucky.
»Ich habe ihn noch nie geöffnet gesehen, aber das scheint er zu sein.«
»Dann guck mal rein«, sagte Lucky und hielt die Lampe auf den Koffer.
Die ganze Kindheit des Jan Ellerbek schien in diesem Koffer zu sein. Erste Schuhe. Kurze Lederhosen. Wasserfarbenbilder. Ein Stoffhund.
»Wir müssen bei Tageslicht wiederkommen«, sagte Theo. »Es muss doch irgendein Foto von ihm dabei sein.«
Lucky blickte sich um. »Ich sehe hier keine einzige Tür«, sagte er. »Doch die Tapeten haben dasselbe Muster wie die nebenan.«
Ma und Pa saßen am Küchentisch, als Theo eine halbe Stunde später nach Hause kam. Sie aßen schweigend Schinkenbrote. Pa trank ein Bier dazu. Es sah nicht aus, als hätten sie sich gestritten.
»Wo warst du die ganze Zeit?«, fragte Ma. Pa sagte ausnahmsweise nichts dazu. Vielleicht wollte er das Thema nicht auf seine eigenen Abwesenheiten lenken. »Mit Lucky zusammen«, sagte Theo.
»Du kannst dich ruhig mal abmelden«, sagte Ma. »Ich mach mir Sorgen, wenn ich gar nichts weiß. Wo es doch wieder so früh dunkel wird.«
Was sich Ma erst für Sorgen machen würde, wenn sie was wüsste, dachte Theo. »Der Mörder ist doch über alle Berge«, sagte er.
»Es gibt auch andere Gefahren. Willst du noch was essen?«
»Gern.« Theo nahm sich einen Teller aus dem Schrank und ein Messer aus der Schublade. »Wie war es im Museum?«, fragte er.
»Solltest du dir auch mal angucken«, sagte Pa. »Die haben eine Metallwarenfabrik nachgebaut. Medaillen und Abzeichen wurden da hergestellt. Anstecknadeln für die Winterhilfe der Nazis. Müsste einen Jungen, der Geschichte studieren will, interessieren.«
Theo hatte Pa immer noch nicht gestanden, dass er sich für Philosophie entschieden hatte.
»Dann bist du wirklich im Museum gewesen.«
»Wo hast du mich denn vermutet?«
Ma sagte nicht, wo sie ihn vermutet hatte. Theo zog die Brauen hoch.
»Was habt ihr für Geheimnisse miteinander?«
»Das hat hier doch
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