Vorstandssitzung im Paradies
wir regelrechte Befehle aussprechen, ehe die Gruppen zusammengestellt waren. Die Leute waren hungrig und müde, sodass ihre Lustlosigkeit verständlich, aber trotzdem nicht zu akzeptieren war, denn Retter waren nirgends in Sicht – wir waren auf uns selbst gestellt und mussten irgendwie klarkommen.
Schließlich merkten wir auch noch, dass die Dschungelgruppen die gefundene Nahrung heimlich versteckten. Ins Lager am Strand brachten sie nur einen Teil ihrer Beute mit.
Nachts, wenn das Lager friedlich hätte schlafen sollen, schlichen am Strand hungrige Menschen herum, und sie waren durchaus nicht alle unterwegs, um die Zuverlässigkeit der Verhütungsspiralen zu erproben, sondern die meisten suchten ihre Nahrungsverstecke auf, um sich heimlich von ihren Vorräten zu bedienen. Die Methode, Nahrung zu verstecken, griff immer mehr um sich. In der Mitte der zweiten Woche war daraus eine allgemeine Gewohnheit geworden. Der Gemeinschaftssinn war völlig zum Erliegen gekommen. Der Hunger untergrub die Kraft des Geistes, und es sah so aus, als ob es zum Zerbrechen der Gruppe kommen würde, wenn wir keine Änderung herbeiführten. Die schwarze Hebamme, die wir inzwischen alle wegen ihrer Redlichkeit und Freundlichkeit schätzten, sagte denn auch zu Vanninen und zu mir:
»Jungs, wenn wir nicht bald von dieser Insel wegkommen, essen die Leute sich gegenseitig auf.«
Vanninen murmelte leise:
»Ich muss mich wundern. Denkt mal an die Blockade von Leningrad. Dort herrschte Frost, und es gab so gut wie nichts zu essen. Die Deutschen hielten die Stadt neunhundert Tage umzingelt, sie beschossen sie mit Kanonen und bombardierten sie aus der Luft, aber trotzdem hielt sie stand. Bei uns bricht schon nach so kurzer Zeit der Notstand aus, dabei beschießt uns nicht mal jemand, und was haben wir für gute Klimabedingungen! Wir sind erbärmliche Menschen.«
Die schwarze Hebamme meinte daraufhin, dass die Leningrader während der Blockade keine andere Möglichkeit gehabt hatten als auszuharren, wenn sie nicht umkommen wollten, denn die Deutschen hatten ja deutlich erklärt, dass sie die Stadt dem Erdboden gleichmachen wollten. Vanninen sagte mürrisch:
»Meines Wissens haben wir ebenfalls keine andere Wahl. Wenn weiterhin Nahrungsmittel versteckt werden, erwartet uns der Hungertod. Wir haben bisher keinen einzigen Menschen gesehen, auch kein Schiff und kein Flugzeug, keinerlei Anzeichen von menschlicher Besiedelung. Hier kommen wir nicht so leicht weg, ich vermute, dass wir noch lange an diesem Strand hocken müssen. Unter Umständen können es zehn Jahre werden.«
Es schien in der Tat unwahrscheinlich, dass wir in nächster Zeit gerettet würden. Eventuelle Suchaktionen hatten wahrscheinlich im falschen Gebiet stattgefunden und waren inzwischen natürlich eingestellt worden. Für Europa waren wir tot.
Die schwarze Hebamme sagte, dass der Mangel an Gemeinschaftssinn vielleicht daher rührte, dass die Leute uns dreien nicht mehr vertrauten, sondern neue Anführer haben wollten. Vanninen war derselben Meinung und schlug vor, dass wir Wahlen durchführten.
»Wir sagen denen, dass es unser aller Untergang ist, wenn die Ordnung nicht wieder hergestellt wird, und sollten sie den Wunsch haben, die Führung auszuwechseln, dann lassen wir gern andere ran.«
Auch ich hatte es ziemlich satt, mich für diese undankbare Horde einzusetzen.
Wir riefen das Lager zusammen.
Murrend und zögernd versammelten sich die Leute. Vielleicht fürchteten sie, dass sie wieder auf mühsame Nahrungssuche in den Dschungel geschickt würden. Vanninen nahm das Wort. Er erklärte, dass es keinen Gemeinschaftssinn mehr gebe und dass, wenn nicht bald eine Besserung eintrete, das ganze Lager langsam zu Grunde gehen werde.
Die Leute hörten mürrisch zu. Als Vanninen vom Verstecken der Nahrungsmittel sprach, sahen viele auf ihre Zehen, andere starrten mit beleidigter Miene aufs Meer.
Nach Vanninen sprach die schwarze Hebamme. Sie fand, dass man von Leuten, die eine medizinische Ausbildung erhalten hatten und die außerdem für Spezialaufgaben der Vereinten Nationen auserwählt worden waren, erwarten durfte, dass sie auch in schwierigsten Situationen ihre Moral bewahrten, Unannehmlichkeiten meisterten und sich vorbehaltlos für das Wohl der Gruppe einsetzten.
Geschickt las sie den Lagerinsassen die Leviten. Ihre Worte wirkten: Allgemeine Scham griff um sich. Auch ich sagte ein paar Worte, die ich speziell an die finnischen Waldarbeiter richtete. Ich bezeichnete sie
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