Vorstoß ins Niemandsland
der Unterschied ist für Dad gar nicht so groß.«
»Da dürftest du wohl Recht haben.«
Er hat ausgesprochen, was ich dachte! , ging es Richard durch den Kopf. Es ist frappierend. Manchmal fragte er sich, ob diese Fähigkeit tatsächlich nur durch eine genaue Beobachtungsgabe zu erklären war.
Richards Gedanken wirbelten flashbackartig zurück in die Vergangenheit. Die Fähigkeit, die emotionale Verfassung anderer Menschen unmittelbar zu erfassen, hatte sich bei Dan schon früh entwickelt. Als Kind hatte er immer genau gewusst, wann es keinen Sinn hatte, Mum oder Dad um irgendetwas zu bitten. Er hatte das dem älteren Richard auch gesagt, aber dieser hatte in der Regel nicht auf den Jüngeren gehört.
Die Ausbildung, die Dan später auf seinem Weg zur Einsegnung als Christophorer-Bruder durchlaufen hatte, musste dafür verantwortlich sein, dass sich diese Fähigkeit noch verstärkt hatte.
Für einen Moment erschienen Szenen von der Einsegnungsfeier in den erhabenen Mauern des Klosters Saint Garran auf Sirius III vor Richards innerem Auge. Er dachte immer mit gemischten Gefühlen an diese Feier. Ein Grund dafür war, dass er in den Reihen der Kuttenträger das Gesicht eines grauhaarigen Mannes wieder erkannte, den er bereits viele Jahre zuvor einmal gesehen hatte. Sein Alter war schwer zu schätzen. Die Haut erinnerte an gegerbtes Leder. Hochstehende Wangenknochen und ein spitz zulaufendes Kinn waren weitere Kennzeichen dieses wie in braunes Holz geschnitzt wirkenden Gesichtes.
Der Fremde hatte zuerst den Novizen Dan Leslie angesehen, hatte dann aber Richards Blick bemerkt und ihn für eine volle Sekunde auf eine Weise erwidert, die dem damals frisch gebackenen Kommandanten der STERNENFAUST eisige Schauder über den Rücken getrieben hatte.
Du brauchst nur an jenen Moment zu denken, und das Gefühl ist wieder da , durchfuhr es Richard Leslie. Ein unerklärliches Unbehagen, gemischt mit dem Wissen, dass da ein Geheimnis war … Ein Geheimnis, dessen wahre Natur Richard nicht einmal ahnte.
»Du denkst an den Mann, von dem du annimmst, dass er uns beide als Kinder beobachtet hat, als wir draußen spielten.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, die gelassen über Dan Leslies Lippen ging.
Richard musste unwillkürlich schlucken. »Du erinnerst dich wirklich nicht an ihn?«
»Ich war damals noch zu klein.«
»Ich habe dir den Mann nach der Einsegnungsfeier beschrieben.«
»Eine markante Erscheinung.«
»Du hast inzwischen seinen Namen herausgefunden?«
»Warum sollte ich?«
»Man könnte ihn fragen, weshalb er uns damals beobachtete. Er trug keine Kutte, aber ich bin mir sicher, dass …«
»Das Bewusstsein spielt einem manchmal schon eigenartige Streiche«, unterbrach Dan seinen älteren Bruder.
Warum tut er das? Ist das seine Art, mir auf besonders diplomatische Weise klar zu machen, dass er darüber nicht sprechen will? Vermutlich … Aber wo steht geschrieben, dass ich so sensibel und feinfühlig sein muss wie er?
»Der Mann trug damals keine Kutte, sondern eine ganz gewöhnliche, zivile Kombination.«
»Unsere Kutte gehört ebenfalls zur Zivilkleidung. Und wenn du genau hinschaust, dann wirst du sehen, dass sie sich keineswegs wie ein Ei dem anderen gleichen, so wie eure Uniformen.«
Er will mich von diesem Thema ablenken! , dachte Richard. Aber in dieser Hinsicht wollte er Dan diesmal nicht auf den Leim gehen. Nein, diesmal nicht!
»Ich habe dich das nie gefragt, aber kann es sein, dass der Orden seine Mitglieder aussucht und sie vielleicht schon in einem sehr frühen Stadium ihrer Entwicklung beobachtet?«
»Es wird viel über unseren Orden erzählt. Manches davon ist wahr, anderes nichts als eine Legende.«
»Und wie ist es in diesem Fall?«
Die Erinnerung stieg erneut in Richard J. Leslie empor. Dieser Blick, mit dem der Grauhaarige uns damals musterte!
»Ich verstehe dein Interesse«, sagte Dan schließlich. »Dieser Mann – wer immer er auch gewesen sein mag – hat uns beide angesehen. Aber ich wurde schließlich ein Ordensbruder, und jetzt fragst du dich, was ich dir voraushaben könnte. Aber das ist eine destruktive Sichtweise, die nur innere Zweifel daran nährt, den richtigen Weg gegangen zu sein.«
Richard hatte den Mund bereits geöffnet, um etwas zu erwidern. Aber kein einziges Wort kam ihm über die Lippen. Er bemerkte die Schritte, sah aus den Augenwinkeln heraus, wie sich eine Tür öffnete und seine Eltern eintraten.
Das Gespräch der Brüder
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