Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
Mondfrau alleine draußen in der Wildnis verbracht. Mir passiert nichts. Außerdem bin ich für Kralle verantwortlich. Du sorgst dafür, daß im Lager alles in Ordnung ist. Ich finde sie schon.«
Es war ihm nicht recht, aber er nickte zustimmend.
Tanzende Füchsin nahm ihre Speere und ging auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren. Im Windschatten der Felsen folgte sie den Stiefelspuren im Schnee.
Wie lange hatte sie die Alte nicht mehr gesehen? Eine Stunde? Oder zwei? Sie wußte es nicht. Sie hatte sich angeregt mit Grünes Wasser über die Anderen unterhalten.
Die Schatten wurden länger. Eine Eule schrie. Drei Krähen flogen krächzend und mit rauschenden Flügeln über sie hinweg.
Bald darauf senkte sich Stille über das Land, der Mantel der Nacht deckte es zu.
»Kralle?« Ihre Stimme klang merkwürdig fremd.
Sie setzte sich in Trab, ohne die Spuren im Schnee aus den Augen zu verlieren.
»Kralle?«
»Hier, Mädchen«, kam es wie ein leises Echo aus dem Wind.
Suchend bahnte sie sich den Weg durch die steilen Felsen, bis sie die alte Frau schließlich entdeckte.
Kralle lag auf einer abgeschrägten Granitplatte. Die hinter ihr aufragende hohe Felswand, geformt von sich zurückziehenden Gletschern, bot ihr Schutz vor dem Wind. In den sandigen Felsspalten wuchs vereinzelt Wermut. Am dunklen Himmel zogen von Norden Wolken heran.
Kralle blickte auf. Sie versuchte ein kleines Lächeln. Gequält schüttelte sie den Kopf, aber ihre uralten Augen zwinkerten vergnügt.
»Hast mich gefunden, eh?«
»Hast du dich verirrt oder eine Rast eingelegt, um …?«
»Ich kann nicht mehr weiter, Mädchen.«
Füchsin beugte sich über die alte Frau, deren knotige Finger sich um die knochigen Knie krampften.
»Was?«
»Es ist Zeit, das ist alles«, sagte Kralle leichthin und sah mit schief gelegtem Kopf zu Füchsin hinauf.
»Ich halte die anderen nur auf. Immer bin ich die letzte in der Schlange. Da dachte ich mir, such dir ein hübsches Plätzchen und setz dich hin.«
»Nein, Kralle. Wir lagern nicht weit von hier. Du kannst…«
»Nein.« Eine zerbrechliche Hand streckte sich aus und tätschelte Tanzende Füchsin, deren Augen mit wachsendem Verständnis auf ihr ruhten.
»Nein, Kind, laß mich. Ich laufe schon lange genug herum und weiß, was kommt. Ich fühle den Tod nahen. Meine Seele möchte gehen.« Sie zeigte hinauf zu den wenigen leuchtenden Sternen.
Eine schreckliche Leere breitete sich in Tanzende Füchsin aus. Sie flüsterte: »Was soll ich nur ohne dich machen?«
Kralle lachte. »Oh, du gehst deinen Weg, Kind. Ich bin stolz auf dich. Du hast den Geist der Frauen der alten Zeit. Ah, der Tag, an dem du Maus am Hals gepackt hast, hat mir das Herz erwärmt.
Erinnerst du dich noch an die Speerspitze, die du vor der Erneuerung gemacht hast? Und du hast die Schneegans einfach aus der Luft geholt! Mit einem Faustschlag! Das schafft kaum ein Mann!«
»Komm schon, du hast dich genug ausgeruht. Wir gehen. Das Lager liegt nicht mehr als einen Speerwurf weit hinter dem Hügel dort. Ich hätte dich besser im Auge behalten sollen. Wenn ich …«
»Gar nichts hättest du«, krächzte Kralle. »Zwei Tage bin ich auf diesen todmüden Beinen herumgehumpelt, bis sich endlich eine günstige Gelegenheit zum Davonschleichen ergeben hat.
Grünes Wasser hat sich gern mit dir unterhalten, sie ist eine gute Frau.«
»Aber du kannst doch nicht…«
»Natürlich kann ich.« Sie stieß Tanzende Füchsin beiseite. »Das ist lediglich eine Sache der Verantwortung. Sieh mich an. Ich kann kein Leder mehr gerben. Ich schlafe ein, wenn ich auf die Kinder aufpassen soll, während die anderen Frauen jagen, Fallen stellen oder Pflanzen sammeln.
Übrigens weiß ich schon lange, daß ich während dieser Langen Finsternis sterben werde.«
»Gar nichts weißt du.«
»Doch. Und Füchsin, nach allem, was ich dir gesagt habe, was ist besser für unser Volk? Wenn ich herumsitze und den Babys die Fleischvorräte vom Mund wegesse? Nein, niemand weiß, was uns diese Lange Finsternis bringt. Das Essen ist entscheidend.«
»Und wenn ich dir von meiner Ration abgebe?«
Kralle grinste liebevoll. »Du bist ein gutes Mädchen, aber ich würde es nicht anrühren.«
»Warum nicht?«
»Ich bin leer, Füchsin. Ich habe alles gesagt, was ich über das Jagen und Sammeln weiß. So ist es Brauch. Wir geben unser Wissen weiter. Du lebst, wie ich es dich gelehrt habe, und in einigen Jahren gibst du dieses Wissen weiter. Das allein zählt.«
Tanzende
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