Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
den Weidenrauch, ein Ritual, das die vier Himmelsrichtungen symbolisierte. Der Osten bedeutete das Nahen der Langen Finsternis, der Norden die unermeßliche Ausdehnung der Langen Finsternis. Der Westen stand für die Wiedergeburt der Welt. Und schließlich der Süden für die Lange Helligkeit und das damit verbundene Leben.
Unter monotonem Singsang verband sich ihre Seele mit dem Großen Einen. Hüten mußte sie sich vor dem lockenden, furchtbaren Nichts, das auf der anderen Seite wartete.
Nach der rituellen Reinigung der Pilze im Rauch schob sie sie in den Mund und kaute bedächtig. Der bittere Geschmack brannte auf der Zunge. Sie schluckte die Pilze hinunter und lehnte sich entspannt zurück. Mit den Händen stützte sie sich auf den Knien ab.
Der Qualm umwogte sie wie der Nebel, wenn er vom großen Salzwasser herüberzog. Geisterhafte Erscheinungen begannen sich vor ihr zu drehen und in immer wilderem Tanz zu wirbeln.
Reiher blinzelte mit den uralten braunen Augen, um den Schleier zu durchdringen. Mit vor Anstrengung gerunzelter Stirn spähte sie minutenlang in den grauen Vorhang aus Qualm und Dunst.
»Wer…«
Umrisse begannen sich aus dem Rauch herauszuschälen. Brecher, die sich wütend gegen schroffe schwarze Felsen warfen. Gischt spritzte auf und perlte hinauf zum grauen Himmel. Am Ufer, inmitten der Brandung, hockte eine Frau. Die zornige Kraft der Wellen schien sie nicht zu fürchten. Mit einem Stock stocherte sie auf den Felsen nach Muscheln, löste sie ab und warf sie in einen Ledersack. Über ihr kreisten Möwen, die ab und zu im Sturzflug auf eine Beute in der See hinabstießen. Eine riesige Woge mit schaumigem Kamm wälzte sich auf die Frau zu. Hastig zog sie sich zurück. Aufgeschreckt durch die plötzliche Bewegung huschte ein Krebs davon. Die Frau in der Blüte der Jugend stehend sprang flink auf und trieb den Krebs in die Enge. Mit dem Stock reizte sie das Tier, bis es sich eine Blöße gab, dann griff sie blitzschnell mit schlanken Fingern zu und steckte es in den Sack.
Hinter hochaufragenden Felsen versteckte sich ein Mann. Er beobachtete die Frau, die nach dem Zurückweichen der Wellen erneut ihren Sack mit den Schätzen des Meeres zu füllen begann. Er folgte ihr, sorgsam darauf achtend, nur ja nicht von ihr gesehen zu werden.
Um seine Taille schlang sich ein breiter Gürtel aus Mammutfell. Sein markantes Gesicht prägten eine scharfe, gebogene Adlernase und funkelnde schwarze Augen. Über seinen Schultern trug er das Fell eines Polarfuchses. In ihrer Trance spürte Reiher deutlich die Macht seiner Seele ein Mann mit magischen Kräften, ein Mann der Visionen.
Die Szenerie verschwamm, Gefühle überlagerten die Klarheit der Bilder: Leid, Liebesverlust, eine Sehnsucht aus den tiefsten Tiefen seiner Seele umwogten sie. Reiher streckte die Hand nach ihm aus.
Seine Qual rührte an ihren eigenen Kummer und knüpfte ein Band zwischen ihnen. Sie versetzte sich in seine Seele, doch in diesem Augenblick zersprang plötzlich etwas etwas raschelte wie welkes Laub, und die Vision verlor weiter an Schärfe. Ein Gefühl der Trennung bemächtigte sich ihrer. Erschrocken über das, was sie getan hatte, zog sich Reiher zurück.
Die Frau am Strand blieb stehen. Sie schien zu lauschen. Das schwarze Haar wehte einem Schleier gleich im Seewind. Schlagartig zuckte sie zusammen wie ein Hase, der den Blick des Fuchses im Rücken spürt. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie den Mann mit ausgebreiteten Armen auf sich zukommen sah.
In höchster Angst blickte sich die Frau nach einem Fluchtweg um. Verzweifelt stürmte sie los, die Füße hinterließen weiße, narbige Spuren im groben grauen Sand.
Mit einem geschickten Täuschungsmanöver überlistete er die Fliehende.
Wie aus dem Erdboden gewachsen stand er plötzlich vor ihr und packte sie. Er lachte vor Freude. Sie schrie auf und schlug mit den Fäusten auf ihn ein. Sein Körper besaß die stählernen Muskeln des Jägers. Mühelos zwang er sie zu Boden.
»Kämpfe, Mädchen! Bezwinge ihn!« Reiher geriet außer sich. Wie eine Rasende schüttelte sie die Fäuste.
Versunken in seiner Vision, bemerkte er nicht einmal die heftig nach ihm tretenden Beine. Er kämpfte mit ihr, bis sie zitternd und keuchend vor Angst unter ihm lag. Mit Gewalt schob er ihre Kleider hoch.
Sie schrie in höchster Not. Ihr Körper bäumte sich auf. Der Kampf dauerte nicht lang. Die Frau hatte der Kraft des Jägers zuwenig entgegenzusetzen.
Ohnmächtig schüttelte Reiher
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