Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
seinen Bruder gelegt. Von oben schwebte eine schwarze Feder nieder und fiel auf den Säugling. Das Kind brüllte aus vollem Hals, und seine winzige Faust griff zornig nach der Feder.
Prüfend blickte Reiher die beiden Neugeborenen an, die Seite an Seite lagen. Der eine schrie wütend, war blutüberströmt und hielt eine Rabenfeder in der Faust. Der andere strampelte mit den Beinchen, während ein Sonnenstrahl sein Gesicht streichelte. Sein Blick wanderte ziellos umher, als erlebe er einen Traum. Er blinzelte, wimmerte leise, und für den Bruchteil einer Sekunde schienen sich seine Augen auf einen Punkt zu konzentrieren er suchte Reihers Augen jenseits des Nebels der Vision.
»Du? Du hast mich gerufen?« Reiher nickte, lehnte sich zurück und schob die Zunge durch eine Lücke ihres schadhaften Gebisses. »Ja, du träumst, mein Kind. Ich sehe magische Kräfte in deinen Augen.
Und nun, da ich dich kenne, warte ich auf dich.«
Die Vision endete, Rauchschwaden trugen sie über die Felsen hinaus in die frostklirrende Nacht. Vor Reihers Augen drehte sich alles. Die Nachwirkungen der Pilze waren unangenehm. Torkelnd erhob sie sich und taumelte gegen die Karibufelle an der Wand. Die eisige Nachtluft durchdrang ihre abgetragene Kleidung. Hilflos sank sie auf die Knie. Der stechende Schwefelgeruch der heißen Quellen stieg ihr unangenehm in die Nase. Sie krümmte sich zusammen und übergab sich heftig.
Die Stimmen der Pilze wisperten in ihrem Blut. In ihrem hitzigen Geflüster schwang der Tod mit. Sie kämpfte darum, mit dem Großen Einen in Einklang zu bleiben.
Heftig blinzelnd rieb sie ihren Mund. Das Heulen eines Wolfes gellte durch die Nacht, laut, durchdringend, als wolle er sich untrennbar mit der Vision verbinden.
KAPITEL 1
Die Lange Finsternis dauerte an. Unersättlich verschlang sie die Seelen der Menschen.
Windfrau peitschte über die gefrorenen Landmassen und türmte den Schnee in der arktischen Dunkelheit zu ungeheuren Wällen auf. Wütend griff sie die mit Mammutfellen überdeckten zeltartigen Behausungen des Volkes an. Die gefrorenen Felle über dem Kopf des Mannes, den sie Der im Licht läuft nannten, knisterten in der eisigen Luft.
Er lauschte dem Geheul des Sturmes. Mit ihm im Zelt lagen seine Verwandten, eingehüllt in dicke Decken, in tiefstem Schlaf. Irgend jemand schnarchte leise. Kalt, so entsetzlich kalt… Unwillkürlich schauderte er und wünschte, sie hätten mehr Tran, um ihn im Feuerloch verbrennen zu können, aber die Vorräte gingen zur Neige. Siebzehnmal hatte er eine Lange Finsternis überstanden. Sein magerer Körper besaß kaum noch Muskeln der Hunger zehrte ihn auf.
Sogar die uralte Gebrochener Zweig brummte, einen solchen Winter habe sie noch nie erlebt.
Der Wind trug ein schwaches Winseln an sein Ohr. Irgendein Tier suchte nach Nahrungsbrocken, die die Menschen dem Eis abgetrotzt hatten. Ein Wolf?
Sein Herz schlug hoffnungsvoll. Mit froststarren Fingern strich Der im Licht läuft über seinen Atlatl die mit eingeritzten Ornamenten geschmückte Speerschleuder, die die Jäger zum kraftvollen Wurf des Speeres benutzten. Wie ein Hieb traf die Kälte die wenigen warmen Stellen seines Körpers, als er sich aus den mit Eis überkrusteten Fellen schälte. Vorsichtig stieg er über die in Pelze gehüllten Schläfer.
Der bestialische Gestank verursachte ihm leichte Übelkeit. Seit Monaten hausten sie schon hier.
Fast begraben unter den wärmenden Decken jammerte Lachender Sonnenscheins Baby. Beim Anblick dieses verhungernden Kindes durchzuckte ein stechender Schmerz die Brust von Der im Licht läuft, als habe ihn die scharfe Spitze eines Speeres durchbohrt.
»Wo bist du, Sonnenvater?« fragte er mit scharfer Stimme und umklammerte den Atlatl so fest, daß seine Finger schmerzten. Geschmeidig wie eine Robbe durch ein Eisloch, schlängelte er sich unter dem lose herabhängenden Türfell durch. Von Nordwesten brauste Windfrau heran und warf ihn gewaltsam zurück. Mühsam rang er nach Halt. Blinzelnd sah er sich um, die funkelnden Schneekristalle auf dem Packeis blendeten ihn.
Wieder hörte er die gedämpften Geräusche eines Wolfes. Das Tier kratzte mit den Pfoten.
Anscheinend versuchte es, etwas aus dem Schnee zu graben.
Der im Licht läuft schlug einen Bogen. Er wollte den Wind gegen sich haben, damit die feine Nase des Wolfes seine Witterung nicht aufnahm. Auf Händen und Füßen kroch er vorwärts. Dunkel hob sich die Silhouette des Wolfes von der schmutzigen Schneedecke ab.
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