Vorzeitsaga 02 - Das Volk des Feuers
Eis.
»In Ordnung oder nicht«, brummte Weißes Kalb und setzte sich bequemer hin, »die Bräuche des Rothand-Volkes unterscheiden sich von denen des Kleinen-Büffel-Volks. Sie sind weder besser noch schlechter, sie sind nur anders. Beim Rothand-Volk heiratet eine Frau normalerweise erst, wenn sie schwanger ist. Das Rothand-Volk empfindet eine große Hochachtung vor der Fähigkeit der Frauen, neues Leben in die Welt zu setzen. Ich erinnere mich noch an die seltsamen Bemerkungen damals, als Klares Wasser zu Blutbär ging. Aber na ja, sie war eine Geisterfrau.« Aus schmalen Augen blickte Weißes Kalb zu Kleiner Tänzer hinüber. »Mir ist es bis heute noch nicht gelungen, alle Knoten und Verwicklungen aus ihren Handlungen zu entwirren.«
Kleiner Tänzer senkte den Blick und schürzte die Lippen. Zwei Rauchwolken hatte ihm irgendwann gesagt, wer seine leibliche Mutter war. Er hoffte, damit seinen Schmerz über Salbeiwurzels Tod zu lindern, alles war nur noch schlimmer geworden.
»Blutbär.« Reizende Wapiti schauderte. »Er glaubt nicht an Geistermacht.«
»Oh?« Weißes Kalbs Kopf fuhr herum.
Reizende Wapiti biß sich auf die Unterlippe und sah plötzlich beschämt aus.
»Und woher weißt du das, du frischausgeschlüpfte Frau?«
Reizende Wapiti schluckte vernehmlich. Ziellos wanderten ihre Augen umher, als suche sie nach einem Ausweg. Schließlich seufzte sie und erklärte: »Eines Tages versteckte ich mich mit Tangara.
Grille sollte uns suchen. Wir befanden uns hinter Blutbärs Zelt. Er führte drinnen Selbstgespräche und unterhielt sich mit dem Wolfsbündel.
Ich hörte, wie er seinen Finger in das heilige Bündel stieß und sagte, er glaube nicht an seine Macht.
Wir beide hatten so schreckliche Angst, daß wir wie erstarrt stehenblieben und erst Stunden später weggegangen sind.«
Gegen seinen Willen keuchte Kleiner Tänzer. Wie im Schock starrte er das Mädchen an. Vor seinen Augen erschien die Spirale; sie schien sich schimmerend im Licht zu drehen, sog ihn auf und zog ihn in die Mitte der endlosen Kreise.
Weißes Kalbs Gesicht hatte sich verhärtet. Ihre Obsidianaugen glitzerten.
Zwei Rauchwolkens gequälte Augen konzentrierten sich auf etwas, das nur er allein sah. Leise aufstöhnend sagte er: »Aber er kümmert sich darum? Er sorgt doch für seine Sicherheit?«
»Er hütet es eifersüchtig.« Reizende Wapiti sah ihn unbehaglich an.
»Natürlich«, knurrte Weißes Kalb. »Was wäre Blutbär ohne das Wolfsbündel? Erinnert euch doch, was er war, bevor er dem Rothand-Volk das Bündel zurückgebracht hat.«
Zwei Rauchwolken nickte. Mühsam rappelte er sich auf und hinkte zur Tür. Er duckte sich und verschwand in der kühlen Nacht. Seine schlurfenden Schritte entfernten sich in der Dunkelheit.
»Blutbär wird leiden.« Kleiner Tänzer schüttelte den Kopf. Wie gebannt starrte er auf die Spirale. »Er ist ein Narr. Ich weiß es. Ich fühlte seinen Frevel in jener Nacht…« Er verstummte.
Plötzlich wurde er sich wieder bewußt, wo er sich befand. Weißes Kalb war keines seiner Worte entgangen. Die alte Frau hatte eine Augenbraue hochgezogen, eine scharfe Stirnfalte grub sich in ihre runzlige Haut.
»Ich wollte Zwei Rauchwolkens Gefühle nicht verletzen«, entschuldigte sich Reizende Wapiti. »Ich wußte nicht, daß …«
»Halt den Mund, Kind.« Weißes Kalb wedelte mit der Hand. »Das Essen ist fertig.«
»Ja, laßt uns endlich essen«, stimmte ihr Hungriger Bulle zu. »Wir sitzen hier herum und sprechen über dieses schreckliche Zauberzeug. Das ist was für Träumer und Geisterheiler. Heute sollten wir eigentlich ein Fest feiern. Kleiner Tänzer und ich haben Fleisch für den ganzen Winter mitgebracht.
Wir vergessen ganz, daß mein Sohn seit heute ein Mann ist! Er hat seinen ersten Büffel erlegt. Was meint ihr? Verdient er nun den Namen eines Mannes?«
Den Namen eines Mannes? Kleiner Tänzers Herz hüpfte vor Freude.
Endlich, nach all den Jahren?
»Wir könnten tatsächlich über einen Namen nachdenken.« Nachdenklich stützte Weißes Kalb das Kinn auf ihre fleckige Hand. »Wir sollten uns ein wenig Zeit dafür nehmen. Den Namen für einen Mann muß man wohlüberlegt auswählen.« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, schnalzte sie mit den Fingern.
Reizende Wapiti bedachte ihn offen mit einem bewundernden Blick.
Eine gedankenvolle Erwartung glomm in ihren Augen. Vielleicht war es eine Täuschung durch das Licht, doch ihre Wangen schienen sich plötzlich zu röten.
Er hätte vor
Weitere Kostenlose Bücher