Vorzeitsaga 02 - Das Volk des Feuers
zusammengekniffenen Augen starrte er fassungslos in den Sturm. Noch nie hatte er erlebt, daß ein solcher Sturm so spät im Frühjahr über die Ebenen hereingebrochen war. Noch nie hatte er gesehen, daß Buchweizen, Phlox und Götterblumen auf den Stengeln erfroren. Selbst in den wildesten Geschichten, die man ihm in seiner Jugend erzählt hatte, war so etwas noch nie vorgekommen.
Er machte sich Gedanken über das Schicksal seiner Krieger, die er hinauf zum Clear River und über die Red Wall geschickt hatte, um den Weg in das Land der Anit'ah auszukundschaften. Normalerweise hätte der Schnee inzwischen geschmolzen und die Wege frei sein müssen. Dann wären die Anit'ah, noch erschöpft vom Winter, ein leichtes Fressen für seine jungen Männer gewesen.
Nicht alle Männer waren bei dem Kundschaftertrupp dabei. Viele befanden sich auf der Jagd nach Büffeln. Sie hofften, bei den Jungtierherden reichlich Beute zu machen und vielleicht zusätzlich eine Antilope erlegen zu können. Um diese Jahreszeit entfernten sich die Mutterkühe von den großen Herden. Sie sonderten sich ab und suchten im Salbeidickicht nach geeigneten, von Kojoten nur schwer aufzuspürenden Plätzen zum Gebären ihrer Kälber. Die Neugeborenen mußten vor den Raubtieren gut versteckt werden.
Wie mochte es den jungen Männern draußen ergehen? Erst eine Handvoll von ihnen war ins Lager zurückgekehrt, mit erfrorenen Füßen und schweren Erfrierungen in den Gesichtern. Sie hatten sich kaum noch auf den Beinen halten können. Das erfrorene Fleisch der Männer, die er behandelt hatte, war schwarz geworden. Daß es möglich war, Eis in Gliedmaßen lebender Menschen zu ertasten, entsetzte ihn. Und was war mit denen, die nicht zurückgekommen waren? Sie hatten das Lager in leichter Jagdkleidung verlassen und nur das Nötigste mitgenommen. Schließlich hatte ein Jäger keinen Lastenhund dabei.
Der Wind riß ihn fast um, versuchte, ihn zurückzudrängen, peitschte ihm den Mantel um die Beine und zerrte an seiner fuchspelzverbrämten Kapuze.
Sein gleichmütiges Gesicht verriet keine Gemütsregung. Mit zusammengekniffenen Augen suchte er die Buffalo Mountains ab. Dort lebten die Menschen, die ihm noch immer widerstanden. Aber schon bald würde er in diese Bergregion mit den saftigen, grünen Wiesen hinaufgehen. Er mußte, es blieb ihm nichts anderes übrig. Die Trockenheit war zurückgekommen, der Regen immer seltener geworden.
Die Büffel waren fast schon wieder so selten wie in jenem Jahr, als er Salbeiwurzel verflucht und die Macht der Älteren im Volk gebrochen hatte. Dieses Mal brauchte er unbedingt die Jagdgründe dieser Anit'ah. Gelang es ihm nicht, ein neues Jagdrevier für seine Leute zu finden und bekam er nicht genügend Fleisch von den Stämmen des Kurzhaar-Volkes, des Weißen-Kranich-Volkes und dem Feuerbüffel-Volk, würden die Leute beginnen, an seiner großen Vision zu zweifeln.
»Träumer können getötet werden«, flüsterte er in den Wind. »Aber nur Träumer ohne Phantasie müssen sich deswegen Sorgen machen.«
Tief atmete er die eisige Luft ein. Stirnrunzelnd blickte er hinaus in den Sturm. Wo waren seine jungen Männer? Befanden sie sich in Sicherheit? Oder lagen sie irgendwo dort draußen, tot, erfroren, die blicklosen Augen zugeweht vom Schnee, die steifen, aus den Schneewehen ragenden Finger in den tobenden Wind gekrallt?
Illusion. Das Leben, die Welt, alles nur eine Erschaffung der Illusion. Er träumte …
… Versank in der Wärme, wie eine Feder in der Luft ließ er sich treiben, vor- und zurückgleitend, sich im Dunst niederlassend.
»Deine Seele könnte die meine sein. Sie ist am Rande deines Körpers angelangt, bereit zum Geistwerden und Aufsteigen zum Sternennetz. Was ist dein Wünsch, Kleiner Tänzer?
Willst du deine Frau wiedersehen? Möchtest du Kinder zeugen?
Willst du, daß deine Leute den Wegen des falschen Träumers folgen? Willst du das Wolfsbündel dem Tod überlassen? Warum willst du das tun? Warum willst du die verzweifelten Schreie der Spirale nicht hören? Die Schreie der Kreise? Die Schreie deiner Leute?«
Kleiner Tänzer glitt im Dunst dahin und genoß ein Gefühl der Erleichterung, wissend, daß seine Leiden nun weit hinter ihm lagen - jenseits der dunstigen Wärme, die seine müde Seele besänftigte. »Es ist so schön hier… so schön …«
»Was du fühlst, ist die Welt des Todes. Deine Seele balanciert an der Grenze.«
Etwas Weiches, Sanftes, wie eine riesige menschliche Hand, hielt seinen
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