Vorzeitsaga 03 - Das Volk der Erde
blickte er zum Grab hinüber. »Ich wollte ihn noch so viel fragen.«
Ein abwesender Ausdruck trat in Weiße Esches Augen. »Ich weiß.« Sie stellte sich neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Die tröstende Wärme ihrer Berührung linderte seinen Kummer ein wenig.
Bilder seines Traumes gingen ihm durch den Kopf. Das Sonnenvolk befand sich in seiner Heimat auf dem Kriegspfad. Das Ende seines Volkes nahte, es würde bald tot sein wie Singende Steine, für immer von der Erde getilgt. Er hatte es überdeutlich gesehen. Die schrecklichen Zukunftsvisionen verfolgten ihn unablässig. Ihm und Weiße Esche blieb so wenig Zeit zum Handeln und die Hindernisse wuchsen mit jedem Schlag ihrer Herzen.
»Was tun wir jetzt, Stilles Wasser?«
Er lehnte den Kopf an ihre Hüfte und verlor sich in Erinnerungen an die Hütte am Rundfelsen.
Warmes Feuer erzählte eine Geschichte, die Rosenbusch und Schilfrohr zum Lachen brachte. Die Kinder lugten unter ihren Decken hervor und beobachteten aus großen Augen die Erwachsenen.
Solch friedliche Nächte würde es beim Erdvolk nie mehr geben. »Wir suchen den Traum.« Er tätschelte ihre Hand. »Sonst können wir nichts tun. Jetzt kommt es auf uns an.« »Er nahm die Kohlen, und sie haben ihn nicht verbrannt. Er durchbohrte sein Fleisch, und es gab keine Wunde«, flüsterte sie demütig. »Wir haben es beide gesehen.«
»Und es war nicht seine Stimme, die zu uns gesprochen hat.« Stilles Wasser zuckte zusammen. »Wir konnten die Macht fühlen. Es war das Wolfsbündel aber nicht das Bündel allein.« Ein Schauder überlief ihn, und er blickte hinüber zu seinem Beutel.
»Das Bündel hat ihn umgebracht«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Worauf haben wir uns da nur eingelassen?«
»Auf eine Macht. Auf die Spirale. Auf Dinge, die ich nicht begreife.«
»Und Mord? Wer tötet die Träumer? Tapferer Mann? Ich weiß, er hat Alter Falke getötet.«
Er atmete heftig aus. »Ich weiß es nicht. Könnte Tapferer Mann durch das Wolfsbündel eine Macht aussenden und auf diese Weise Singende Steine umbringen?«
»Ich rühre es jedenfalls nicht an, um das festzustellen.« Argwöhnisch schielte sie zu seinem Beutel hinüber. »Vielleicht sollten wir es bei Singende Steine lassen.«
»Nein. Das scheint mir… nicht richtig. Verstehst du, was ich meine? Ich kenne die Macht. Das Bündel ist nicht böse.«
»Frag Linke Hand, wie er darüber denkt. Ich finde, wir sollten es in Singende Steines Grabstätte einschließen.«
Nachdenklich runzelte Stilles Wasser die Stirn. Der Vorschlag schien vernünftig, aber andererseits, was war Illusion und was die Wahrheit? Es schien ein unlösbares Rätsel zu sein. »Die Macht. Wir müssen die Macht verstehen.« Er hob den Kopf. »Singende Steine sagte, Mächte seien überall, würden aber nicht in den Lauf dieser Welt eingreifen. Heiler wie Schwarze Hand benutzen eine Macht, lenken sie, verändern sie. Auch Hexer gebrauchen eine Macht, allerdings für andere Zwecke. Nein, es ist nicht das Bündel. Es wäre ein Fehler, das Bündel mit Singende Steine zu begraben.«
»Es hat ihn umgebracht«
»Tatsächlich?« Er sah sie an. »Oder ist er freiwillig hineingetaucht und wollte gar nicht wieder herauskommen? Erinnerst du dich? Er sagte, es riefe ihn. Vielleicht hatte er nicht die Kraft, diesem Ruf zu widerstehen.«
»Die Kraft?« Sie schnaubte und setzte sich auf die Steinplatte neben der seinen. Verlorenheit und Angst standen in ihrem Gesicht. »Die Stimmen fragten, ob ich stark genug sei.«
Stilles Wasser legte seinen Arm um ihre Schultern. »Beim Rundfelsen-Stamm fertigte ich Speerschäfte an. Für einen Speerschaft wird sehr gutes Holz benötigt. Zuerst wird die Rinde abgeschält und die Faser geprüft um festzustellen, ob der Geist des Holzes arbeitet. Anschließend wird das Holz erhitzt und gedämpft und geradegebogen. Ist das getan, wird es mit einem Schabemesser geglättet. Dabei verbindet sich ein Teil der Seele mit dem Holz. Der fast fertige Speerschaft wird über dem Feuer erhitzt, um den Geist des Holzes widerstandsfähig zu machen. Schließlich wird die Schnitzarbeit ausgeführt.«
»Hat diese Geschichte einen tieferen Sinn, oder warum erzählst du mir das?«
Er nickte geistesabwesend. »Du bist wie ein Speerschaft, Weiße Esche.«
»Ich bin eine Frau«, erwiderte sie wütend.
»Dessen bin ich mir sehr wohl bewußt.« Er umarmte sie fest und genoß die wohltuende Wärme ihres Körpers. »Ich sprach vom Standpunkt der Macht
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