Vorzeitsaga 03 - Das Volk der Erde
schien stetig schwerer zu werden. Er schüttelte den Kopf und sang lauter.
Schweißtropfen perlten auf Weiße Esches Stirn. Die Krieger waren inzwischen deutlich zu sehen, sie trabten unverwandt auf sie. Wieviel Zeit blieb ihm und Weiße Esche noch?
»Wolfsträumer?« flüsterte Weiße Esche und kämpfte gegen die Ausweglosigkeit der Situation an.
»Hilf mir. Ich muß die Tiere rufen.«
Das Gewicht des Beutels zerrte heftig an Stilles Wassers Schultern. Wenn ich mich nicht konzentrieren kann, wird mich gleich ein Speer durchbohren. Er machte seinen Kopf frei, sang seinen monotonen Singsang und zwang sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen.
Doch der Beutel schien immer schwerer zu werden… Schlagartig begriff er: Das Wolfsbündel!
Er nahm den Beutel ab und öffnete hektisch die Verschnürung. Als er nach dem Bündel griff, schoß ein blitzartiger Machtstrom durch seinen Arm. Die Luft schien zu prickeln. Weiße Esche wurde ruhig, die Verzweiflung verschwand von ihrem angespannten Gesicht.
Schreiend deuteten die Krieger zu ihnen herauf.
Stilles Wasser spürte, wann Weiße Esche das Große Eine berührte. Dann brandete eine so heftige Macht im Wolfsbündel auf, daß es ihm fast aus den Händen fiel. Er konnte die Fäden der Macht, die das Bündel nach Weiße Esche aussandte, fast greifen.
Ein schwarzer Wolf schlich zwischen den Sträuchern umher, blieb stehen und spähte mit leuchtenden gelben Augen abwartend auf Weiße Esche. Während aus den Lüften herab ein Adler immer tiefere Kreise zog, kam der Wolf näher und stellte sich zwischen Stilles Wasser und Weiße Esche. Das Tier stand dicht neben ihm, er spürte die Schnurrbarthaare am Leder seiner Hose. Eine Wiesenlerche ließ sich auf Stilles Wassers Kopf nieder und trillerte unbeschwert ihr Lied. Ein Dachs bahnte sich leise brummend den Weg durch das Dickicht. Das Große Eine pulsierte.
Die Krieger blieben einige Speerlängen unterhalb von ihnen stehen und beobachteten ungläubig das Geschehen.
Sprich mit ihnen. Dieser stumme Befehl erreichte Stilles Wassers Seele.
»Weiße Esche?« flüsterte er rasch. »Du mußt mit ihnen sprechen. Sag ihnen, wir kommen in Frieden.«
Einer der Krieger balancierte wurfbereit seinen Speer.
»Weiße Esche! Ich spreche ihre Sprache nicht
Sie löste sich aus dem Traum, und die Tiere flohen Hals über Kopf, hasteten in das Dickicht oder erhoben sich in den türkisblauen Himmel. Die Krieger stießen erschrockene Laute aus und bedeckten mit den Händen die Köpfe zum Schutz vor den aufsteigenden Vogelschwärmen. Einer der Männer ließ sich zu Boden fallen und flehte mit einem Lied den Großen Donnervogel um Beistand an.
»Was? Was hast du gesagt?«
»Sag ihnen, wir bringen einen Traum. Wir werden ihnen nichts tun.«
Als sie diese Worte in der Sprache des Sonnenvolkes wiederholte, blickten sich die Krieger beunruhigt an.
Zögernd kletterte der Anführer der Krieger den Hang herauf, einen Speer wurfbereit am Atlatl angelegt. Seine Männer folgten ihm vorsichtig.
Der junge, gutaussehende Mann bewegte sich mit geschmeidiger Anmut und beneidenswerter Sicherheit. Sein Haar hatte er hoch am Kopf zusammengebunden. Drei blaue Linien waren auf seine Stirn tätowiert. Zehn Schritte vor ihnen blieb der Anführer der Krieger stehen. Sein Gesicht drückte zugleich Scheu und Ehrfurcht aus. Er flüsterte: »Weiße Esche?«
Stilles Wasser erriet ihren Namen auch in der Sprache des Sonnenvolkes. Er wandte sich zu ihr um, sie blickte den jungen Krieger völlig erstarrt mit offenem Mund an.
»Windläufer?« wisperte Weiße Esche. Sie wußte nicht, war es Traum oder Wirklichkeit. Sie blinzelte verwirrt und fuhr sich mit der Hand über die Augen. War das tatsächlich Windläufer? Oder nur eine Illusion, die das Große Eine heraufbeschwor?
Er kam näher. Im hellen Tageslicht erforschte sie die Linien des vertrauten Gesichts. Es erschien ihr älter und härter, als sie es in Erinnerung hatte.
»Weiße Esche …du Weinst
Sie erhob sich auf unsicheren Beinen, trat zögernd vor und umarmte Windläufer. Er zog sie zärtlich an sich wie in jener letzten Nacht auf dem Grat über dem Weißlehm-Lager.
»Ich dachte, du wärst tot«, flüsterte er, seine Lippen berührten ihr Haar. »Ich hatte jede Hoffnung aufgegeben.«
Plage bellte und knurrte ihn an.
Nun trat auch Stilles Wasser vor. »Weiße Esche«, fragte er unsicher. »Wer ist dieser Mann?«
Sie löste sich von Windläufer, wich einen Schritt zurück und blinzelte unter Tränen.
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