Vorzeitsaga 03 - Das Volk der Erde
brauchen, wie er sie noch nie gebraucht hatte und ihr würde nicht einmal Zeit zur Trauer bleiben. Auf ihren Schultern läge die Hauptlast der Tragödie.
Schlimmer noch, Tapferer Mann würde die Gelegenheit beim Schöpfe packen und Druck auf Salbeigeist ausüben. Tapferer Mann wollte sie unbedingt heiraten. Tapferer Mann. Sie hatte ihn einmal geliebt. Was war nur aus dem verwegenen, gutaussehenden Jungen geworden, mit dem sie gespielt und gelacht hatte? Er war unbeschwert und wagemutig gewesen. Tapferer Mann hatte eine besondere Anziehungskraft auf sie ausgeübt, es war ein Gefühl, durch ein gemeinsames Schicksal miteinander verbunden zu sein. Tief in ihrem Herzen hatte sie gewußt, daß sie heiraten würden. Doch dann kam der Tag, an dem der Schwarzspitzen-Stamm das Lager oberhalb des Fat Beaver River überfiel. Der draufgängerische Tapfere Mann wurde im Kampf schwer am Kopf verwundet. Er selbst behauptete später, bei diesem Angriff gestorben zu sein. Einige Monate später begegneten ihm Keine Zähne und Rotluchs. Er wanderte ziellos über die mit Beifußsträuchern bewachsenen Hügel. Sie fanden ihn merkwürdig verändert, von einer eigenartigen Macht erfüllt. Hartnäckig behauptete er, aus dem Lager der Toten entkommen zu sein. Ein neuer Glanz leuchtete in seinen Augen, und er erzählte von Stimmen, die in seinem Kopf flüsterten.
Bei der Erinnerung an den letzten Sommer stieg Widerwille in ihrer Kehle auf wie bittere Galle.
Tapferer Mann hatte ihr in einem Hinterhalt aufgelauert. Sie trat um sich und schrie aus Leibeskräften, doch er hatte sie in das Weidendickicht am Gray Deer River gezerrt. Noch heute sah sie deutlich seine Muskeln vor sich, die wie Flußkiesel unter ihren wilden Faustschlägen anschwollen, und es überlief sie ein eisiger Schauer.
Mit einem triumphierenden Glitzern in den Augen hatte er sie zu Boden geschleudert und unter sich festgehalten. Obwohl sie wußte, wie vergeblich ihre Anstrengungen waren, hatte sie sich weiter gewehrt.
Lachend hatte er mit seiner Hand unter ihr Hirschhautkleid gefaßt und ihre Oberschenkel und die Stelle zwischen ihren Beinen befühlt. Dann hatte er sie zu vergewaltigen versucht. Doch Windläufer war überraschend aufgetaucht und hatte sie von Tapferer Manns Begierde befreit. Auf Windläufers Herausforderung zum Kampf war Tapferer Mann nicht eingegangen, sondern davongestürzt.
Windläufer hatte ihr seine Liebe gestanden und bedauert, sie nicht haben zu können, weil sie die Tochter des Bruders seines Vaters war. Weiße Esche, in der seit einiger Zeit eine heimliche Liebe zu Windläufer gewachsen war, hatte erwidert, daß es ja keine Blutschande wäre, da sie doch nicht die leibliche Tochter sei. Doch Windläufer hatte widersprochen und gesagt, für den Weißlehm-Stamm wäre es gleichbedeutend. Dann hatte er sie gebeten, ihn nie in Versuchung zu führen, da sie sich sonst an den Gesetzen des Weißlehm-Volkes und der Macht versündigten. Niedergeschlagen von der Erkenntnis, Tapferer Mann durch sein Besessensein von einer bösen Macht verloren zu haben und Windläufer nicht gewinnen zu können, war sie ihres Weges gegangen.
Das Feuer knackte. Weiße Esche schrak aus ihren Erinnerungen hoch und kehrte in die Gegenwart zurück. Hier in Salbeigeists Zelt, in der endlosen Nacht von Leuchtender Monds langem Sterben, fühlte sie sich vollkommen verlassen und hilflos. Tapferer Mann würde seinen ganzen Einfluß geltend machen. Seit zwei Jahren war sie nun eine Frau. Bei jeder Drehung des Mondes mußte sie vier Tage im Menstruationszelt verbringen. Doch sie lehnte es ab, sich mit bereitwilligen Männern in die Büsche zu schleichen. Beim Weißlehm-Stamm war sie deshalb zur Außenseiterin, ja, zu etwas Besonderem geworden. Vielleicht war ihre unerfüllte Liebe zu Windläufer daran schuld. Und dann waren da noch die Träume…
Weit im Süden erhob sich rhythmischer Gesang hinauf in die Nacht, an- und abschwellende Stimmen verschmolzen mit dem Takt einer Trommel. Dazu erklang ein eigenartig zirpendes Geräusch, erzeugt von einem ausgekehlten Knochen, der mit einem Stock aus Wildkirschenholz gestrichen wurde. Eine Rassel aus Antilopenhufen begleitete die harmonische Musik mit einem weichen, rhythmischen Klappern.
Trillernd erhob sich das Lied hoch hinauf in die kalte Abendluft, wanderte bis zu den kristallklaren Sternen und trug sein Flehen um Leben in die Geisterwelt.
Kranker Bauch blieb kurz stehen und hob den Kopf. Er lauschte den Bitten seines Volkes um Hilfe
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