Vorzeitsaga 03 - Das Volk der Erde
stieg eine Dampfsäule zum Himmel hinauf.
»Die Heißwasserquellen«, flüsterte Kranker Bauch. Ein Ort der Mächte.
Er hatte schon viel von diesen großartigen Quellen gehört, deren kochendheißes Wasser aus der Erde in seltsam geformte Teichbecken sprudelte und daraus in den Gray Deer River floß. Rittersporn hatte ihm immer gern die Geschichte aus ihrer Jugendzeit erzählt, wie sie als junges Mädchen zu den heißen Quellen gegangen, in deren Wasser gebadet und eine Vision gehabt hatte.
Kranker Bauch starrte sehnsüchtig zu dem wogenden Dampf hinüber. Jedesmal, wenn Rittersporn diese Geschichte erzählte, hatte er geglaubt, es handle sich um einen Ort außerhalb der wirklichen Welt. Es war ein wunderbares Gefühl, die Quellen nun tatsächlich vor sich zu sehen.
Er beschloß, dorthin zu gehen, und hoffte, vorher nicht in die nächste Katastrophe zu stolpern.
Er forderte seinen Hund auf, ihm zu folgen, und Plage trabte schwanzwedelnd neben ihm her.
Kranker Bauch verzog übellaunig das Gesicht und starrte mißmutig zum Himmel hinauf. »Warmes Feuer, du hast keine Ahnung, in welche Schwierigkeiten du mich gebracht hast. Und das alles wegen eines Versprechens. Bestimmt stoße ich bald auf mordgierige Krieger des Sonnenvolkes oder auf andere schreckliche Dinge.«
Er begann den Abstieg über den verschneiten Hang hinunter zum silbernen Band des Gray Deer River.
Geblendet vom reinen Weiß des Schnees, stolperte Weiße Esche ziellos vorwärts. Mehrmals stürzte sie über die unter dem Schnee verborgenen Steine und Sträucher und fiel hin. Der feuchte Schnee klebte an ihren Kleidern, schmolz und durchnäßte sie bis auf die Haut. Sie fühlte sich vollkommen abgeschnitten von der Welt der Lebenden.
Weiße Esche mußte sich zum Weitergehen zwingen. Halb betäubt von ihrer Begegnung mit Drei Bullen, hatte sie nur den einen Wunsch, sich so schnell wie möglich von dem schrecklichen Felsüberhang zu entfernen.
Die roten Flecken von Drei Bullens Blut bildeten Krusten auf ihrem Ärmel und unter ihren Fingernägeln. Voller Genugtuung erinnerte sie sich an den warmen Strom seines herausspritzenden Blutes, der ihre Hände tränkte. Das Geräusch des scharfen Quarzits, mit dem sie wieder und wieder auf ihn eingeschlagen hatte, würde bis zu ihrem Tod in ihren Träumen nachhallen.
Angst und Verzweiflung hatten ihren Muskeln ungeahnte Kräfte verliehen. Erst als sie völlig erschöpft war, hatte sie den Quarzit fallen lassen. Beim Anblick seines zerstörten Gesichtes wurde ihre Seele von Entsetzen gepackt. Das Bild seines verstümmelten, in einer Blutlache liegenden Kopfes hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis gebrannt.
Ihr Fuß verfing sich in einem abgestorbenen Strauch. Wieder stürzte sie. Der kalte feuchte Schnee biß in ihr Gesicht und in ihre Hände. Sie kämpfte sich hoch und sammelte Drei Bullens Speere wieder ein, die ihr aus der Hand gefallen waren. Wenigstens war sie geistesgegenwärtig genug gewesen, seine Sachen an sich zu nehmen. Nun besaß sie Feuerstöcke aus Hartholz, seinen Atlatl und die Speere. Mit Waffen und Feuer konnte sie überleben.
Geflüster erklang hinter ihr. Weiße Esche zuckte zusammen und warf einen ängstlichen Blick über die Schulter. Der Schnee schuf seltsame, bizarre Formen, fast wie Gesichter, die auf eisigen Flügeln vorwärts zu stoßen schienen. Mit hämmerndem Herzen eilte sie weiter. Deutlich fühlte sie etwas Lauerndes, Abwartendes, das ihren Spuren folgte.
Lauf weg! Flieh! Ohne anzuhalten, hetzte sie weiter. Ihr Magen schmerzte vor Hunger, ihre Beine zitterten vor Erschöpfung. Benommen und schwankend vor Müdigkeit, atmete sie tief durch. Die Welt verschwamm. Sie sah wie durch einen Nebelschleier. Dann wurde ihr schwarz vor Augen…
Weiße Esche lag im Schnee. Ihre Hände und Füße spürte sie nicht mehr. Sie blinzelte. Ein dunkler Schatten ragte über ihr auf.
»Nein! Laß mich in Ruhe!« schrie sie entsetzt und taumelte wieder auf die Beine. Mit letzter Kraft lief sie weiter. Sie blickte zurück doch da war nichts. Die Erde drehte sich, die Landschaft verschwamm wieder vor ihren Augen…
Der kalte Schnee brachte sie wieder zu Bewußtsein. Wie lange hatte sie dieses Mal auf dem eisigen Boden gelegen?
Von heftigen Kälteschauern geschüttelt, starrte sie zum Himmel hinauf. Die Sonne brach durch die Wolken. Täuschte sie das Licht? Aus den Wolkenfetzen formte sich ein Gesicht. Ein Mann aus Feuer sah voller Mitgefühl auf sie herunter.
Zitternd und wimmernd
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