Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
Geheimnisse anvertraute? Wahrscheinlich. Aber du weißt, was ich mit Leuten mache, denen du deine Geheimnisse anvertraust. Die Puppe strahlte Böses aus. Ja, Tharon fühlte ihren finsteren Blick auf sich gerichtet. Er würde sie in den nächsten Tagen verbrennen lassen - nur, um ihr zu zeigen, was er von ihren »Gefährten« hielt.
Lautlos wie ein Wolf schlich er durch das Zimmer und preßte ihr eine Hand auf den Mund, damit ihre Schreie nicht die Wachen vor dem Tempel alarmieren konnten.
Entsetzt riß sie die braunen Augen auf und schlug wild auf ihn ein. Aber ihre schwachen Kräfte waren Tharons Stärke nicht gewachsen. Ein unterdrückter Schrei erklang unter seiner groben Hand, und ihre Tränen flössen warm über seine Finger.
»Gib keinen Laut von dir«, warnte er sie.
KAPITEL 16
Nachtschatten kniete auf einer Matte in der erstickenden Dunkelheit der kegelförmigen, im Durchmesser zehn Hand großen Schwitzhütte. Schon vor Morgengrauen war sie hergekommen, hatte gesungen und mit Bruder Schlammkopf gesprochen. Das Schildkrötenbündel, auf einem Dreifuß zu ihrer Linken ruhend, streckte zarte Ranken der Macht nach ihr aus. Sie berührten ihre Haut, als suche es verzweifelt ihre Nähe. Ihre Seele dehnte sich aus, streichelte es und versicherte ihm beruhigend, sie werde es nie mehr verlassen. »Ich bin da, Bündel.«
Der bittere Schmerz in ihrer Seele war nicht mehr allgegenwärtig. Die langen durchwachten Nächte hatten Binses Lachen und sein freundliches Lächeln fast ausgelöscht. Nur gelegentlich, für den winzigen Bruchteil eines Augenblicks, wurde es wieder Frühling. Dann fand sie sich in Binses Armen liegend wieder und blickte zu den wogenden, am tiefblauen Himmel dahinziehenden Wolken hinauf.
Der durchdringende Geruch des Flusses stieg ihr in die Nase, und Binses fröhliche Stimme klang in ihren Ohren …
Nur in solchen Momenten senkte sich das entsetzliche Leichentuch des Schmerzes auf sie. Doch Nachtschatten hatte inzwischen gelernt, mit ihren Gefühlen umzugehen. Sie handhabte sie wie ein Messer und trennte sich von sich selbst ab. Die Erinnerungen glitten von ihr ab, als handle es sich um die eines anderen Menschen.
Nachtschatten tauchte eine Schale in den roten Krug mit dem nach Zedern duftenden Wasser und goß die kühle Flüssigkeit langsam auf die heißen Steine in der Mitte des Hüttenbodens. Dampfschwaden stiegen auf. Der Schweiß lief in Strömen über ihren Körper, säuberte und reinigte sie. Sie senkte das Kinn. Bäche von Schweiß rannen über ihr Gesicht, tropften auf ihre Brüste und flössen auf ihren flachen Bauch.
Bruder Schlammkopfs verzerrtes Gesicht schwebte im glitzernden Schleier des Dampfes riesig und rosarot gefärbt vom Lehm des heiligen Sees. Seine dunklen Augen verrieten seine Anteilnahme. ,Die Zeit ist gekommen. Du mußt das Bündel erneuern. Dazu mußt du deinen Geist auf ewig an das Bündel binden. Das Bündel braucht dich.«
»Ja«, wisperte sie. Ihre Stimme kam ihr unwirklich und fern vor.
Der Schlammkopf verschwand im wogenden Nebel.
Nachtschatten erhob ihre tiefe Stimme und sang das Lied vom Ursprung des Lebens. Die Melodie schien durch die Dampfschwaden zu gleiten wie funkelnde Edelsteine.
Als sie das Lied beendet hatte, streckte sie ehrfürchtig die Hände nach dem Schildkrötenbündel aus und legte es auf ihre Knie. Die aufgefrischten roten, gelben, blauen und weißen Spiralen schimmerten düster im spärlichen Licht, das durch die vor der Tür hängenden Häute hereinfiel. Das schwarze Auge inmitten der roten Hand blickte sie starr an.
»Gehen wir gemeinsam zum Anbeginn der Zeit zurück.«
Sie sang ihr ganz persönliches Geisterlied und löste behutsam die feuchte Verschnürung des Bündels.
Kaum wahrnehmbar stieg die Macht auf, stumm, fast schon tot. Die »Tausend Stimmen« waren bis auf das Flüstern einiger weniger, deren Worte unverständlich blieben, verklungen.
Tränen des Kummers traten Nachtschatten in die Augen. »Was hat er dir angetan?«
Alle anderen Bündel und Gegenstände der Mächte, die Tharon angesammelt hatte, hatten sich im selben schlimmen Zustand befunden. Ihre Seelen waren fast zu einem Nichts geschrumpft, sogar die des Bündels des alten Murmeltier. Wie konnte jemand so viel Macht in so kurzer Zeit zerstören? Oder waren die Mächte im Laufe der Zeit schwächer geworden? Falls es ihr gelang, die Stimmen des Bündels zu kräftigen, gaben sie ihr vielleicht die Antwort auf diese Frage - und sagten ihr, womit Tharon die Erste
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