Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
Als ich das Träumen erlernte.«
»Wanderer, warum hast du mir das nie gesagt? Ich muß solche Dinge wissen - du weißt schon, falls ich sie sehe. Wie ist sie?«
»Streitsüchtig. Ich bekam nicht einmal ihre Höhle zu Gesicht. Sie lief auf mich zu, schwang drohend ihren Gehstock und vertrieb mich.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Ich glaube, sie mochte mich nicht.« Wanderers knochige Schultern sanken herab, und er seufzte tief auf.
Beide schwiegen nachdenklich.
Wie Keulenhiebe schlugen Vater Sonnes Strahlen heftig auf Mutter Erde ein und blendeten die an den Ufern der Bäche auf den Feldern arbeitenden Menschen. An den Stellen, an denen der Boden schutzlos den sengenden Strahlen ausgesetzt war, war die Erde vor Trockenheit geborsten.
Die welken Überreste von Gänsefußkräutern, Erdbeeren und Anemonen hingen schlaff auf die schwarze Erde. Am Fuße der Felsen wucherte Purpurwinde. Ihre purpurroten Blüten wanden sich schutzsuchend zwischen die Felsspalten. Ein paar kräftige Sonnenblumen reckten ihre Blätter zum Himmel und flehten um ein paar Tropfen Regen. Aber keine einzige Wolke trübte das endlose Blau des Himmels.
Flechte ging ein Stück des Wegs voraus. Der Boden war eingesunken und rissig wie eine zu lange über einem Feuer aus Wildkirschenholz gebratene Speckschwarte. Ich komme, Erste Frau. Sobald ich kann, komme ich und rede mit dir. Aber willst du vorher nicht wenigstens einen ergiebigen Regenschauer zu uns schicken?
Bei dem Gedanken, wieder in die Unterwelt gehen zu müssen, zuckte Flechte zusammen. Die Erinnerung daran, wie sie aus ihrer Sänfte in den Fluß gestürzt war, verfolgte sie. In der Nacht suchten sie Alpträume heim; sie schluckte Unmengen eiskalten Wassers und fühlte, wie sich ihre Lungen damit füllten und sie zu ersticken drohte. Solange sie die Seele der Wasserschlange hatte, schaffte sie die Durchquerung des Flusses, ohne Schaden zu nehmen. Aber was, wenn sie, ohne es zu wissen, eine neue Seele bekommen hatte?
Sie betete zu Donnervogel, daß sie keine andere Seele bekäme, bevor sie noch einmal mit Vogelmann gesprochen hatte.
Wanderer riß sie aus ihren Gedanken. »Was mich an meinem Traum wirklich beunruhigt, Flechte, ist, daß das ganze Land in Brand gesteckt wurde. Wenn die Ernte verbrennt, wird es uns nicht mehr helfen.
»Hat Wolfstöter gesagt, wie du unseren Untergang aufhalten kannst?«
Wanderer bedachte sie mit einem sorgenvollen Blick. Ahnungsvolle Angst ergriff Flechte, und ihr Magen verkrampfte sich. »Ja, meine Tochter. Er sagte, ich solle dich folgendes lehren: Um den Pfad zu betreten, mußt du ihn verlassen.
Allein die Verirrten finden den Eingang zur Höhle, und nur die Schutzlosen überschreiten die Schwelle. Wolfstöter sagte auch, alles Gegensätzliche stehe miteinander im Einklang. Du wirst das Licht nur finden, wenn du begreifst, Licht ist auch Dunkelheit, Blöße, Nichts. Außerdem soll ich dir ausrichten, wenn es dir nicht gelingt, in die Höhle zu gelangen, wird der Zorn der Ersten Frau uns Menschen vom Angesicht dieser Erde gen.
Ein panisches Kribbeln kroch über Flechtes Rückgrat. Sie verlagerte das Gewicht ihres Bündels.
»Wanderer, warum ich? Warum ausgerechnet ich? Warum nicht du? Oder Nachtschatten? Ihr beide wart viel häufiger in der Unterwelt als ich.«
»Eine Macht trifft ihre eigene Wahl. Letzten Endes kann niemand ihre Wege verstehen. Ich wünschte nur, ich wüßte, wieviel Zeit mir noch bleibt, um dir alles Nötige beizubringen. Ich will dich nicht drängen, Flechte, aber -«
»Am besten zögern wir nicht, sondern machen uns gleich an die Arbeit, Wanderer.« Schaudernd erinnerte sie sich, wie sehr ihre Seele beim letztenmal, als er zu schnell zu viel von ihr verlangt hatte, gelitten hatte. Unbehaglich biß sie sich auf die Unterlippe. Könnte sie das noch einmal ertragen?
»Vielleicht brauche ich länger, als wir glauben, deshalb «
»Oh!« rief Wanderer aus. »Da ist sie! Warte, Flechte! Den ganzen Morgen habe ich versucht …«
Wild um sich schlagend bahnte sich Wanderer den Weg durch ein Dickicht welker Nesseln. Erst sprang er auf die rechte Seite und versuchte, etwas vom Boden aufzuheben, dann sprang er nach links und murrte: »Nein, nein, komm her. Ich tue dir nichts!«
Ergeben setzte sich Flechte auf den Boden in den schmalen Schatten eines Büffelbeerenstrauches, dessen Zweige lange, behaarte Blätter und ein paar verschrumpelte Beeren trugen. Sie pflückte eine Beere und steckte sie in den Mund. Süße Feuchtigkeit benetzte
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