Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
auf dem Kalkstein.
Mit der Zunge befeuchtete er seine Lippen. »Und wenn Wanderer uns verflucht oder verhext?
Vielleicht will er uns mit Rabenseelen versehen?«
Flechte breitete die Arme aus und drehte sich auf den Zehenspitzen im Kreis. Sie ahmte einen sich in die Lüfte emporschwingenden Vogel nach. Ein nie gekanntes Gefühl der Freiheit ergriff von ihr Besitz, und sie drehte sich immer schneller. »Ich wollte immer schon fliegen, Fliegenfänger. Du nicht?«
»Nein!« antwortete er mit fester Stimme.
Großspurig stemmte Flechte die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf. Der Regenvorhang war näher gekommen und verhüllte inzwischen die Sonne. Kühl fielen die ersten Tropfen auf ihr Gesicht, und sie genoß das wunderbare Gefühl. »Dann geh doch nach Hause«, spottete sie. »Ich gehe alleine weiter. Wie immer. Aber ich sage dir die Wahrheit. Wanderer ist kein Hexer, und er ist nicht verrückter als … die meisten.« Die letzten Worte sagte sie absichtlich so leise, daß er sie nicht verstehen konnte.
Ausgerechnet diesen Augenblick wählte Donnervogel, um sein Grollen ertönen zu lassen. Sie sah, wie Fliegenfänger vor Entsetzen zwei Fuß vom Boden hochhüpfte. Mit offenem Mund starrte er sie an und lauschte dem krachenden Dröhnen, das über die erzitternden Felsen und Kalksteinwände in das Schwemmland hinunterrollte.
»Siehst du?« Flechte grinste breit. »Sogar Donnervogel ist meiner Meinung. Du bist ein Feigling, Fliegenfänger!«
Sie drehte sich um und lief weiter zu Wanderers Felshöhle. Der Regen prasselte auf sie herab, und bald war sie durchnäßt. Sie senkte ihr hübsches herzförmiges Gesicht und sprach leise ein Gebet zu Donnervogel. Inbrünstig dankte sie ihm für das Gewitter und betete, er möge im Sommer noch mehr Regen schicken. Die letzten Zyklen waren sehr trocken gewesen, das Land brauchte verzweifelt Regen, ebenso die Tiere und die Menschen. Donnervogels mächtige Stimme verjagte Frostmann, der sich noch mit letzter Kraft in das Land krallte, und weckte die Erste Frau, damit sie sich wieder um das Land kümmerte. Bald verwandelte sich der zottige Winterpelz des in den Klippen nur noch vereinzelt vorkommenden Rotwilds in glänzendes Fell. Kitze würden geboren werden. Und die Bitterkeit in den sorgenvollen Gesichtern der Menschen würde einem Lächeln weichen.
»Warte!« schrie Fliegenfänger. »Warte auf mich, Flechte! Ich komme mit!«
Sie verlangsamte ihren Schritt, ging aber zielbewußt weiter. Versteckt hinter einem Gewirr von Ästen sah sie bereits die Umrisse von Wanderers Felshöhle. Ihre Nackenhaare sträubten sich leicht. Das war das Werk einer Macht; sie ließ sich so lange mit dem Wind treiben, bis sie auf einen Menschen stieß.
Mit winzigen Zähnen fraß sie sich in ihn hinein und wand sich um seine Seele.
Flechte war das vor langer Zeit schon widerfahren. Sie war erst vier Sommer alt gewesen, als sich der erste Geist in ihre Träume stahl. Von dem Steinwolf, dessen Hüterin Flechtes Mutter war, schössen Ranken aus blauem Licht hervor, krochen durch das Zimmer auf sie zu und formten sich zu einem majestätischen Vogelmann mit dem Kopf und den Schwingen eines Adlers, doch mit der Haut einer Schlange. Das Wesen kniete neben ihrem Bett nieder und starrte sie aus glänzenden schwarzen Augen an. »Weißt du, warum Eulen mit ausgebreiteten Flügeln sterben, meine Kleine?«
Sie schüttelte nur den Kopf, die Angst hatte ihr die Sprache verschlagen. Erschrocken versuchte sie, sich immer tiefer in den Deckenberg aus abgeschabten Fellen zu verkriechen.
Mit seiner Schlangenhauthand berührte der Vogelmann sacht ihre Wange und murmelte: »Weil sie bis zuletzt zu fliegen versuchen. Sie geben nie auf, lassen nie die Flügel hängen. Sie wissen, der Flug ist ihre einzige Hoffnung, zu überleben. Zu Anbeginn der Welt, als der Erdenschöpfer aus Lehm Berge und Wüsten formte, besaßen auch die Menschenwesen Flügel… wie ich. Das war zu der Zeit, als Tiere und Menschen ein gemeinsames Leben lebten. Ein Mensch konnte sich, wenn er wollte, in ein Tier verwandeln, und ein Tier konnte ein Menschenwesen werden. Würde dir das gefallen, Flechte?« »Ja«, antwortete sie schüchtern.
»Die Welt braucht dich. Ein fürchterlicher Krieg naht. Die Erste Frau ist zornig auf die Menschen. Sie will die Welt preisgeben und euch alle dem Tode weihen. Nur wenn es dir gelingt, dir Flügel wachsen zu lassen und in ihre Höhle in der Unterwelt zu fliegen und mit ihr zu reden, wirst du die Welt
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