Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
ein Ablenkungsmanöver, um uns «
»Das Denken erledige ich! Steh auf, Alter! Beeil dich! Du siehst, woher die Pfeile kommen. Noch sind Petagas Kämpfer alle zusammen. Wenn wir sie umzingeln, bevor sie ausschwärmen, haben wir sie!«
»Ja, ja, schon gut. Ich beeile mich. Ich überbringe deine Befehle.« Vorstehender Zahn rappelte sich auf und lief humpelnd davon.
Schwarze Birke blickte finster in die Nacht hinaus. Wenn man bedachte, von welch schmalem Streifen Land die Pfeile kamen, so genügte eine kleine Gruppe Krieger, um einen wirkungsvollen Geschoßhagel loszulassen.
Schwarze Birke sprang über einen Busch und sprintete den Hang hinab, um seine Krieger zu sammeln.
KAPITEL 25
Flechtes Lungen schmerzten, aber sie blieb nicht stehen, um zu verschnaufen. Beharrlich grub sie ihre Zehen in die bröckelnde, lehmige Erde des Pfades und trieb ihren Körper den steilen Hang hinauf.
Über ihr ragte eine Felsklippe auf, eine hellbraune, zweihundert Hand hohe Wand. Flechte kämpfte gegen die brennenden Tränen und schöpfte neuen Mut. Vielleicht konnte sie von dieser Klippe aus Überlebende des Überfalls erblicken.
Langsam stieg der Nebel aus dem Tal herauf und tränkte die dürren Hyazinthenstengel und mageren Kreuzdornsträucher, die sich in den Fels krallten, mit Feuchtigkeit. Auf den bläulichen Blütenblättern glitzerten Wassertropfen. Vater Sonne lugte über die Kante des Grats und schaute auf die Welt herab. Mit zunehmender Erwärmung stiegen immer dichtere Nebelschwaden auf und liebkosten das leuchtende bernsteingelbe Gesicht mit zarten Fingern.
»Mutter«, krächzte sie leise. »Wo bist du? Ich brauche dich. Wanderer, hörst du mich? Ich rufe dich!
Komm doch. Ich bin hier.«
Er hatte versprochen, nach ihr zu suchen, und sie war überzeugt, wenn man ihm die Gelegenheit dazu ließ, würde er sie finden. Was hatten die Krieger ihm angetan? Und ihrer Mutter? Dieser Gedanke schnürte ihr die Kehle zu; sie konnte kaum noch schlucken. Die grausamen Krieger hatten alle Dorfbewohner getötet. Sogar den alten Waldente mit dem verkrüppelten Bein - und Kinder wie Warze.
Das tödliche Entsetzen jener Nacht, in der sie nur gelaufen war, sich versteckt hatte und weitergelaufen war - dieses ständige Fliehen und Verstecken hatte einen Abgrund in Flechtes Seele geöffnet. Sobald sie an ihre Mutter, an Wanderer oder Fliegenfänger dachte, klaffte in ihrer Seele ein Loch so groß wie der gewaltige, aufgerissene Rachen eines Bären, der sie zu verschlingen drohte.
Flechte warf ihren zerzausten Zopf über die Schulter, hastete die Steigung hinauf und umrundete eine Biegung. Von dieser Stelle aus konnte sie über das Land blicken. Die von Redweed Village aufsteigenden Rauchwolken schwebten zum kristallklaren Himmel hinauf. Die Krieger konnten nur aus Cahokia gekommen sein. Sicher hatte der Sonnenhäuptling Redweed Village bestraft, weil sich das Dorf auf Petagas Seite geschlagen hatte. Flechte hatte gehört, wie ihre Mutter mit Fliegenfängers Mutter darüber geflüstert hatte.
Mit Entsetzen dachte sie an ihre aussichtslose Lage. Was konnte sie tun, wenn niemand sie fand?
Wohin sollte sie gehen? Wer würde sich um sie kümmern? Sie war erst zehn Sommer alt! Könnte sie für sich selbst sorgen?
Flechte schürzte die bebenden Lippen und betrachtete prüfend die Felswand. In den Nischen wuchs Leinkraut. Die eßbaren, urnenförmigen Früchte an den oberen Zweigen brauchten noch einen Mond, bis sie reif waren. Hie und da entdeckte sie kümmerlichen Klee. Sie konnte die Wurzeln ausgraben und roh essen, die Blätter ließen sich für einen Tee verwenden. Vielleicht fand sie auf den feuchten Wiesen etwas violetten Sauerklee, dessen Wurzelknollen ebenfalls eßbar waren. Sie nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit ein paar Strähnen ihres Haares zu einer Bogensehne zu drehen und ein Weidenstämmchen zu schneiden, das sich zur Herstellung eines Bogens eignete. Mit Pfeil und Bogen konnte sie jagen. Sie wußte zwar nicht, wie man Pfeilspitzen anfertigte, aber für Kleinwild würde ein angespitzter Stock aus Hartholz genügen.
Vielleicht schaffte sie es.
Vielleicht … Wanderer, ich will nicht ohne dich leben … und nicht ohne mein Dorf.
Aber Redweed Village war bereits Vergangenheit - für immer ausgelöscht von dieser Erde. Ihr Verstand begriff diese unabänderliche Wahrheit, aber ihr Herz begehrte dagegen auf.
Je höher sie kletterte, um so besser wurde die Sicht über das Land. Von hier oben sah es aus, als sei die
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