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Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss

Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss

Titel: Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gear & Gear
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veränderten ihre Farbe von Gold und Rosa zu einem grellen Purpurrot. Als der Himmel sich indigoblau gefärbt hatte, ließ Wanderer das Seil los und forderte Flechte auf, ihm zum Hang zu folgen. Dort angekommen, kauerten sie sich vor dem Kasten nieder. Flechte konnte sich nicht erinnern, daß Vater Sonne jemals so schnell verschwunden war … vielleicht haben wir ihn tatsächlich gefangen!
    Aufgeregt schrie sie: »Darf ich sehen? Bitte, Wanderer, darf ich nachsehen?«
    »Oh, nicht jetzt.« Wanderer summte leise vor sich hin. Er hob den Kasten auf und drückte ihn fest an seine Brust. »Später. Wir müssen uns zuerst vorbereiten. Komm mit, wir bringen ihn nach Hause.«
    In einer Ecke von Wanderers Behausung saß Flechte auf ihrem Bett aus aufgestapelten Fuchsfellen.
    Wie Wanderer ihr aufgetragen hatte, blickte sie starr auf die Symbole der Mächte an den Wänden. Im düsteren Feuerschein leuchteten sie, als seien sie lebendig. Die schwarzen Halbmonde schienen sich zur Seite zu neigen und den purpurnen Sternenregen Geheimnisse zuzuflüstern. Und die roten Spiralen!… oh, die Spiralen! Sie biß sich auf die Unterlippe. Sie bewegten sich heute nacht.
    Aufsteigend und fallend kreisten sie über die ganze Wand und zerrten mit unsichtbaren Händen an ihr.
    Wanderers Singsang verstärkte diese Empfindung. Er saß auf seinen Decken auf der anderen Seite des Raumes und kauerte sich über der Falle zusammen wie ein Geier. Stundenlang hatte er die Falle bemalt, bis die Spiralen, die Schlangen und die Gesichter von Vater Sonne, der Mondjungfrau und der Ersten Frau vollkommen waren. War er gerade nicht in seine künstlerische Arbeit vertieft, beobachtete er Flechte … abschätzend, beurteilend.
    Schließlich hob er die Falle hoch und stand auf. Flechte drehte sich um.
    »Nein, sieh mich nicht an«, sagte er ruhig.
    Gehorsam wandte sich Flechte wieder den Spiralen auf der Mitte der Rückwand zu.
    Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Wanderer in den rot-grün gemusterten Korb griff, in dem er die Wurzelspäne von Schmetterlingskraut, einer Pflanze der Mächte, aufbewahrte. In Redweed Village hatte nur ihre Mutter das Recht, diese Pflanze zu besitzen und zu hüten. Flechte erinnerte sich an die mit dem Ausgraben, Trocknen und Zerteilen der Wurzel einhergehenden Zeremonien, die im Frühling sechs Tage in Anspruch nahmen. Wanderer tauchte eine Handvoll Wurzelspäne in seinen Wasserkrug, nahm die nassen Wurzelstückchen heraus, schüttelte sie ein wenig ab und sprenkelte damit Wasser auf die Flammen. Dampf und Rauch stiegen auf und erfüllten den Raum mit dem süßen Duft eines regenfeuchten Waldes.
    Wanderer schloß die Augen und begann singend die Falle durch den heiligen Rauch zu führen. Seine Füße bewegten sich dazu in einem Tanzschritt, den Flechte nicht kannte aber die Spirale an der Wand kannte ihn. Sie hüpfte im richtigen Rhythmus von einer Seite zur anderen. Flechte wagte kaum zu atmen und beobachtete fasziniert das Schauspiel. Sie merkte kaum, wie Wanderer vom Feuer zurücktrat und vor ihr niederkniete.
    »Was siehst du, Flechte?« fragte er mit sanfter Stimme.
    »Die Spirale … sie tanzt.« Ihr Mund wollte nicht sprechen, und ihr Körper fühlte sich taub an. Er schien in die Bewegungen der Spirale einzufließen. Mit jedem Atemzug verstärkte sich dieses Gefühl. Wie lange starrte sie schon auf die Spirale? Die halbe Nacht?
    Oder erst ein paar Augenblicke? Sie wußte es nicht aber sie konnte ihre Augen nicht mehr davon abwenden. Ihre Seele hatte begonnen, sich im Rhythmus der tanzenden Spirale auszudehnen und zusammenzuziehen.
    »Gut. Beobachte sie weiter.« Wanderer setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen vor sie hin und legte die Falle schützend in seinen Schoß. »Gut, Flechte. Jetzt sieh mich an.«
    Es kostete sie gewaltige Anstrengung, den Kopf zu drehen. Wanderers tiefliegende Augen leuchteten schwarz wie die Dunkelheit und schienen sie unter grauen buschigen Augenbrauen hervor zu durchbohren. Schweißtropfen glitzerten auf seiner Hakennase. Im schimmernden Licht des Feuers glänzten seine grauen Haare wie polierte Silberperlen.
    »Jetzt sieh die Falle an, Flechte.«
    Sie gehorchte und entdeckte darauf eine weitere Spirale, blutrot wie die an der Wand.
    »Was hörst du, Flechte?«
    »Dich.«
    »Hör genauer hin. Lausche der Bewegung der Spirale. Lausche … lausche …«
    Wanderers Stimme wurde leiser und leiser, bis sie ihn kaum noch hörte. Gleichzeitig senkte sich Dunkelheit über sie, die alles um sie

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