Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
zarte Gewebe nach den Wolken. »Nachtschatten haßt mich, Dachsschwanz. Ich weiß nicht, warum. Ich habe sie immer geliebt.«
»Ich glaube nicht, daß sie dich haßt. Sie ist im Augenblick durcheinander und fühlt sich einsam. Laß ihr Zeit, über Binses Tod hinwegzukommen, vielleicht …«
Dachsschwanz bemühte sich, seine wahren Gefühle zu verbergen. Nachtschatten haßte Tharon mehr als alle anderen.
»Und wenn sie mich nie liebt?« Tharon ließ das Spitzengewebe los. Es verhakte sich in seinen kupfernen Haarspangen und fiel wie ein Schleier über sein Gesicht. Die Ränder flatterten in der Brise.
»Das ist eine dumme Frage an einen Mann wie dich, nicht wahr, Dachsschwanz? Du hast nie geliebt.
Du kannst nicht verstehen, was ich empfinde.«
Langsam atmete Dachsschwanz aus. »Ich war einmal verheiratet. Es ging nicht gut.« Tharon war zu jung, er konnte nichts von den Gerüchten über Dachsschwanz und Heuschrecke wissen - Vater Sonne sei Dank. »Der Krieg ist meine Leidenschaft gewesen.«
»Der Krieg? Das ist keine zärtliche Geliebte. Bist du nicht auch einsam, Dachsschwanz?«
»Manchmal. Ich glaube, alle Menschen sind zuweilen einsam.«
,Aber bei einem Krieger ist das noch schlimmer, oder? Ich meine, es muß schwer sein, Menschen Vertrauen zu schenken und dabei zu wissen, daß man sie vielleicht eines Tages … töten muß.
Außerdem verliert ein Krieger viele Freunde. Wie du vor kurzem Rotluchs.«
»Ja«, erwiderte Dachsschwanz mit dumpfer Stimme.
Tharon schien zu fühlen, daß er einen wunden Punkt berührt hatte. Er löste die Spitze aus den Spangen, strich sein Gewand glatt und starrte Dachsschwanz neugierig an. »Habe ich dir gesagt, daß ich mich entschieden habe, Rotluchs als vollwertigen Angehörigen der Sonnengeborenen zu adoptieren? Ich habe den Sternengeborenen bereits befohlen, für ihn ein Begräbnis innerhalb der Palisaden vorzubereiten. Sagte ich dir das schon?« Eifrig wandte er sich Dachsschwanz zu. »Oh, es wird großartig, Dachsschwanz. Wart's nur ab.
»Ich danke dir, mein Häuptling. Ich -«
In dem Sternenzimmer erklang der Gesang einer tiefen, wundervollen Stimme. Dachsschwanz verstummte verblüfft. Er hatte keine Ahnung gehabt, daß sich jemand dort aufhielt. Tharon fuhr herum und verharrte einen Augenblick mit entsetzt aufgerissenen Augen. Dann sprang er auf die Füße und rannte davon. Mit wehendem Spitzengewand wich er der Stange aus, auf der Jenos' Kopf aufgespießt war, und verschwand auf der Vorderseite des Tempels.
Dachsschwanz straffte die Muskeln. Langsam wurde ihm klar, wer da sang. Diese herrliche Stimme gehörte Nachtschatten.
Aus dem Sternenzimmer kräuselte Rauch. Der angenehme Duft nach brennendem Zedernholz stieg ihm in die Nase.
Dachsschwanz ließ sich auf den Rücken in das kühle Gras sinken und gönnte sich eine Hand Zeit, um mit der schönen Melodie von Nachtschattens Lied davonzugleiten. An einem Grabhügel in der Ferne sah er Staub aufwirbeln. Die Arbeiter hoben eine Grube aus und bereiteten Rotluchs' letzte Ruhestätte vor.
»Schnell, Aloda!« schrie Schwarze Birke, der Kriegsführer der Spiral Mounds, und riß die Türvorhänge zu Alodas Bettkammer beiseite. »Sie sind schon fast da! Sie sind durch die Bewässerungsrinnen geschlichen wie feige Hunde!« Schon rannte er wieder davon.
Aloda warf sein langes Hemd über, griff nach Bogen und Köcher und trat geduckt in die Nacht hinaus.
Er bemerkte kaum die beißende Kälte des Bodens unter seinen nackten Füßen und folgte Schwarze Birkes schwankendem Schatten über die Spitze des Hügels. Sternenlicht tauchte die Welt in vage Helligkeit. In ihr wirkte der strohgedeckte Tempel wie ein kauerndes Ungeheuer. Noch bevor er das Haus des Rates umrundet hatte, hörte er Schreie. Erfüllt von Todesangst gellten sie durch die Dunkelheit - sie schienen von überall her aus dem Nichts zu kommen.
»Verräter! Dreckige, verräterische Hunde! Sie sind schlimmer als Dachsschwanz!« zischte Schwarze Birke. Sie schlössen sich einigen Kriegern an, die über die Hügelkante nach unten spähten und die Geschehnisse verfolgten. »Für Dachsschwanz' Beweggründe kann man noch Verständnis aufbringen, aber dies …!«
»Ich verstehe Petagas Gründe«, keuchte Aloda. »Wer von uns überlebt, muß zu Tharon gehen und ihm Bescheid sagen. Davor hat Petaga Angst.«
Feurige Bänder segelten durch die Luft und landeten auf den Strohdächern der Häuser. Die knochentrockenen Gebäude gingen sofort in Flammen auf. In panischer
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