Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
schaßte es, sich am rechten Bein festzuklammern. Das Kondorweibchen kreischte vor Angst, und seine Atemwölkchen wurden vom Wind weggewirbelt. Die Klaue seines rechten Fußes riß Sonnenjägers Arm auf, während es mit dem Schnabel auf seinen Kopf einhackte. Blut strömte heiß über sein Gesicht und tropfte ihm vom Kinn.
»Bitte, Großmutter«, sang er, während er mit dem Dolch ausholte, »gib dich mir zur Beute, damit die Mammuts weiter in unserer Welt leben.« Er stieß wieder und wieder zu und spürte, wie die scharfe Spitze das Federkleid durchschnitt und die schwarze Brust und Kehle des Kondors durchbohrte. Seine Hand war warm und klebrig, und Darminhalt sickerte aus den durchbohrten Eingeweiden des Vogels.
Das Kondorweibchen kreischte schrill und schlug ihn mit riesigen, blutigen Flügeln. Das Männchen kreiste unter entsetztem Geschrei im Aufwind nach oben. Als das Weibchen schließlich mit gespreizten Flügeln auf den Rücken fiel, starrten seine verängstigten Augen nach oben; blinzelnd zuckten sie im faltigen Rot des runden Kopfes. Der große, gebogene Schnabel war mit Flecken geronnenen Blutes bedeckt, in dem kleine Gewebefetzen klebten. Sonnenjäger strich ehrerbietig über die Beine des Vogels, als dessen Hals aufhörte sich zu winden. Rasselnde Atemzüge entrangen sich der Lunge des Kondorweibchens.
Von Kopf bis Schwanz war es so groß wie viele Menschenfrauen, und mit seinen ausgebreiteten Flügeln erreichte es fast eineinhalb Mal Sonnenjägers Größe. »Danke, Großmutter. Ich verspreche, daß ich deine Federn gut nutzen und deinen Körper mit vielen seltenen Seemuscheln und fein gearbeiteten Pfeilspitzen begraben werde.«
Sein Volk hatte die großen Vögel immer verehrt, und sie begruben Kondore in einem feierlichen und würdigen Ritus. Aus dem blauen Blut von Alter-Mann-Oben geboren, trugen die Kondore das innerste Wesen allen Lebens in ihrem Körper.
Tod gebiert immer neues Leben. Sogar Alter-Mann-Oben war bereit zu sterben, damit die Welt ins Sein treten konnte.
Das Weibchen rang plötzlich nach Luft, und sein Atem kondensierte um den geöffneten Schnabel herum zu einer weißen Wolke. Es blinzelte mit sterbensmüden Augen zu Sonnenjäger hin. Der ganze Körper war mit Blut bespritzt, doch die dicke, rote Schicht an der weißen Unterseite des Flügels stammte auch aus Sonnenjägers aufgerissener Haut. Das Blut Sonnenjägers und des Kondorweibchens hatten sich dort vermischt. Sanft fuhr er mit den Fingerspitzen über die Vorderkante des Flügels.
»Vergib mir, Großmutter.«
Er richtete sich auf und stand zitternd in der eisigen Luft. Eine dunkle Wolke hatte das Gesicht von Vater Sonne verdeckt, und der Berggipfel lag nun in ihrem klirrend kalten Schatten. Das blasse Taubenblau der Felsschichten war zu einem tiefdunklen Grau geworden. Oben zog der vereinsamte männliche Kondor noch immer mit vorgestrecktem Kopf seine Kreise, beobachtete die letzten Momente seines Weibchens.
Sonnenjägers Seele schmerzte. Sein Blick traf den des Männchens, und sie teilten ihren Kummer miteinander. Beide verstanden, daß der Tod grundlegend zu ihrer Beziehung gehörte. Kondore lebten von Aas, das zu einem bedeutenden Teil entweder von menschlichen Jägern zurückgelassen worden war oder vom Fleisch der Menschen selbst stammte. Die Menschen mußten Kondore töten, um die heiligen Federn zu erlangen, die sie brauchten, um die Welt zu erneuern und zu segnen. Mensch und Kondor standen sich ständig gegenüber und flehten um Leben - und wußten dabei, daß Leben nur durch den Tod kam.
Sonnenjäger flüsterte: »Ich werde mich gut um sie kümmern, Großvater, das verspreche ich dir. Sie wird zum Land der Toten fliegen, während mein Volk ihr Lob singt.«
Sonnenjäger schaute auf das Weibchen hinunter. Dessen Schnabel lag auf dem geschwungenen Flügelrand. Es hatte aufgehört zu atmen.
»Komm, Erster Kondor«, sang Sonnenjäger mit leiser Stimme. »Komm und behüte die Seele deines Kindes, bis wir sie ins Land der Toten singen.«
Er kniete nieder, bog sorgfältig Großmutter Kondors Flügel ein und band sie mit einem dünnen Strang aus Yuccafasern an ihrem Körper fest, so daß er sie leichter tragen konnte. Dann spannte er seine Muskeln an und hob den schweren Vogel, dessen Kopf mit halbgeöffneten Augen herabbaumelte, in seine Arme. So begann er den Abstieg.
In dieser Nacht lagerte er im Schütze eines dichten Tannenwäldchens, das ihn vor dem schlimmsten Wind schützte. Im flackernden Lichtschein des
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