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Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste

Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste

Titel: Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen O'Neal Gear , W. Michael Gear
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Ort und Stelle die ganze Zeit geduldig warten.
    Sonnenjäger ging zurück und nahm sein Heiler-Bündel wieder auf.
    Das Bündel an die Brust gedrückt, kehrte er zu Stehender Monds Zelt zurück, beugte sich zum Türvorhang hinab und rief: »Stehender Mond?«
    »Sonnenjäger? Bitte komm herein.«
    Er hob den Türvorhang hoch und kroch hinein. Seine Augen brauchten eine Weile, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Der dumpfe Geruch von Schweiß, Urin und Krankheit umgab ihn. Er hängte den Türvorhang über den Haken, so daß der kühle Wind hereinwehen konnte. Auf niedrigen Bänken entlang der Zeltwand lagen vier Kranke unter Bergen von Fellen. Stöhnen erfüllte den Raum.
    Das Feuer in der Mitte des Zeltes war zu grauer Asche herabgebrannt, doch strahlte es noch immer eine gewisse Wärme aus.
    »Danke, daß du gekommen bist, Sonnenjäger«, sagte Stehender Mond. Sie kniete am anderen Ende des Zeltes. Ihr wegen der Trauer kurz geschnittenes Haar betonte den Kummer in ihrem runden Gesicht.
    Sie hielt die Hand ihres weinenden dreijährigen Sohnes. Seine fieberglänzenden Augen zuckten im Dämmerlicht hin und her.
    »Wie geht es ihm?« fragte Sonnenjäger.
    »Er ist letzte Nacht krank geworden. Er ißt nicht. Ich wollte die Frühlingsknollen suchen, die er so gerne mag. Ich bin sehr weit gegangen, Sonnenjäger, aber ich konnte keine finden. Und etwas anderes ißt er nicht. Er hat die Hirschbrühe weggestoßen, die ich für ihn gemacht habe.«
    Stehender Mond küßte ihren Sohn auf die Stirn, dann stand sie auf und wischte die schweißnassen Handflächen an ihrem Kleid aus Raubkatzenleder ab. Lange Fransen, an deren Enden jeweils eine Löwenkralle geknotet war, hingen von ihren Ärmeln herab. Bei jeder Bewegung stießen die Krallen gegeneinander und rasselten wie trockene Knochen im Wind. Tapfer sagte sie:, Aber wegen meiner Schwester mache ich mir die meisten Sorgen.«
    Die Blicke der anderen Kranken folgten Sonnenjäger, als er hinter Stehender Mond her zur Südwand des Zeltes ging. Sie zog die Felle von Holzschales Gesicht. Ihre Lippen zuckten. »Seit Mitternacht hat sie sich nicht mehr bewegt. Ich glaube, ihre Seele hat sich vom Körper getrennt. Kannst du sie wieder zurückholen?«
    »Wenn sie noch nicht zu weit weg ist.«
    Sonnenjäger öffnete sein Heiler-Bündel und hockte sich neben der Bank nieder. Holzschale schien ihn nicht wahrzunehmen und starrte mit leeren Augen zur rußbedeckten Zeltdecke empor. Schweißnasses Haar umrahmte ihr Gesicht. Sie zählte nur zwanzig Sommer, sah aber viel älter aus. Ihre Haut war fahl geworden. Speichel tröpfelte aus den Mundwinkeln. Sonnenjäger wischte ihn sanft mit dem Rand einer Felldecke weg. »Kannst du mir bitte eine Schale voll Wasser und ein Stück glühender Holzkohle bringen, Stehender Mond? Und dann schüre bitte das Feuer, aber kräftig.«
    »Ja.« Sie nahm eilig einen aus einer Tierblase gefertigten Beutel und füllte damit das muschelförmige Haus einer Seeohrschnecke, das ihr als Schale diente. Dann kniete sie sich beim Feuer nieder und wühlte in der Asche, bis sie ein glühendes Holzkohlenstück fand. Sie nahm es heraus und steckte es in eine Vertiefung oben auf der Schneckenschale. Sorgsam achtete sie darauf, kein Wasser zu verschütten, als sie ihm die Schale brachte. Dann blies sie in die winzigen Glutreste auf dem Boden und entfachte ein knisterndes Feuer.
    Sonnenjäger stellte die Schale oberhalb Holzschales Kopf auf die Bank. Im trüben Licht glänzte das schimmernde Innere der Schale wie ein Regenbogen. Er öffnete sein Bündel und entnahm ihm einen weißen Bergkristall und eine grüne Specksteinpfeife. Das Gesicht von Otter blickte ihn von der Pfeife her an, als wollte er seine Seele prüfen. Vor langer Zeit hatte er das Gesicht bei seiner ersten Suche nach einer Vision geschnitzt.
    Sehr leise, als wollte er es vermeiden, Schlafende zu wecken, begann er zu singen:
    Höre mich, Alter-Mann-Oben.
    Dieser Ruf ist heilig.
    Dieser Ruf ist heilig.
    Sei meinem Volk gnädig.
    Vater Sonnes Tag ist meine Stärke.
    Der Flug der Donnerwesen wird mein Todesweg sein.
    Wecke den Großen Weißen Giganten im Norden aus seinem
    Schlaf.
    Dieser Ruf ist heilig.
    Dieser Ruf ist heilig.
    Ich bitte um deinen Atem,
    laß ihn in meinen warmen Körper kommen
    und sich mit meinem Atem vereinigen …
    Sonnenjäger wiederholte den letzten Satz immer wieder, während er seine Pfeife mit Tabak stopfte und mit Hilfe eines trockenen Blattes die Holzkohle in den Pfeifenkopf legte.

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