Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
schlüpfte.
Stechapfel drehte sich um und sah Tannin mit unerwarteter Ruhe an. Seine glanzlos gewordenen Augen schimmerten im Licht des Feuers golden. Er bewegte sich anders, die Steifheit der harten Tage auf Wanderschaft war verflogen. »Ich wollte schon fast nach dir suchen gehen. Hast du für ein lumpiges Waldhuhn so lange gebraucht?«
»Das war ein besonders schlaues Waldhuhn. Es hat sich ständig hinter Gebüsch versteckt, so daß ich nicht richtig darauf zielen konnte.«
Tannin kniete sich neben dem Feuer nieder, spießte den Vogel auf einen langen Stock und warf einen Blick auf Stechapfel. Warum war Stechapfel plötzlich so ungewöhnlich heiter? Er verhielt sich so, als wäre ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Hatte er einen Entschluß gefaßt? Betraf er Turmfalke?
Tannin legte den Spieß in zwei Astgabeln, die zu beiden Seiten des Feuerlochs im Boden steckten. Die Federn des Waldhuhns fingen Feuer und verbrannten schnell in einer Wolke stinkenden Qualms. Wäre er jetzt daheim, hätte Rufender Kranich das Waldhuhn in eine dicke Schicht Lehm gehüllt und es tief in der Glut vergraben, so daß es langsam in seinem eigenen Saft schmoren konnte. Hier fehlte die Zeit für einen solchen Luxus. Doch bei dem Gedanken daran fühlte Tannin, wie sehr er seine Frau vermißte. Wahrscheinlich ist sie draußen auf dem Dorfplatz und lacht und schwatzt mit den anderen Frauen beim Dorffeuer. Und bestimmt denkt sie an mich, macht sich Sorgen und fürchtet um meine Sicherheit.
Bevor er weggegangen war, hatte sie gesagt: »Mein Herz geht mit dir. Komm zu mir zurück. Und vergiß nicht, daß Turmfalke deine Schwägerin ist. Denk an die vielen Male, die sie wegen deines Bruders zu unserer Hütte kam und uns angefleht hat, sie aufzunehmen.
Damals hatte er nur genickt und sie zum Abschied umarmt. Erst jetzt konnte er die Untertöne in ihrer Stimme hören - den Unwillen gegenüber Stechapfel, die Zuneigung zu Turmfalke. Wie immer hatte sie ihm mehr mitgeteilt, als in ihren Worten enthalten war.
Er warf einen Blick auf Stechapfel, der in den hinteren Teil der Schutzhöhle gegangen war. Er hörte das Klappern von Muschelschalen und einen dumpfen Aufschlag, als Stechapfel etwas fallen ließ.
Tannin konnte nicht sehen, woran er sich zu schaffen machte.
Tannin legte sich vor dem Feuer auf die Seite und sog den köstlichen Duft des bratenden Waldhuhns ein. Zischend tropfte Fett auf die Steine der Feuerstelle. Talabwärts spähte der Mond über den Horizont, als zögerte er mit seinem Erscheinen aus Furcht vor dem, was er vielleicht zu sehen bekäme.
Ein Silberstreif fiel durch die knorrigen Zweige eines Wacholdergestrüpps.
Tannin lächelte. Mit Einbruch der Dunkelheit war der Wind kühler geworden und zu einem Flüstern erstorben. Sanft blies er in das Feuer, so daß die Glut karmesinrot aufleuchtete. Er nahm all seinen Mut zusammen und sagte: »Stechapfel, ich habe über die Sache nachgedacht. Vielleicht sollten wir Turmfalke einfach laufen lassen. Ihre Spur ist verschwunden, und wir …«
»Wir werden sie wiederfinden.«
»Nun, mag sein, aber denkst du nicht…«
»Oh, du kannst mir ruhig glauben. Wir werden sie wiederfinden. Weil ich weiß, wo sie hingeht.«
»Wohin?«
»Zur Küste. Eiskrauts Mutter kam von dort. Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen ihres Klans, aber ihr Dorf lag direkt an der Küste. Ich erinnere mich, daß Windschatten vor zwanzig Jahresumläufen davon erzählt hat. Ihr Mann hatte sie geraubt, als sie noch fast ein Kind war, und in ihrer Erinnerung war dieses Dorf so prächtig wie das Land der Toten.«
Stechapfel setzte sich schwer auf der anderen Seite des Feuers nieder und öffnete das Bündel, das er in seinen Schoß gelegt hatte. Er zog das tote Baby daraus hervor.
Tannin rang nach Luft. Stechapfel hatte das Kind ausgeweidet. Er hatte den Bauch von der Kehle bis zum Schambein aufgeschlitzt und die inneren Organe und die Luftröhre herausgenommen. Das Fleisch war schrumplig und schwarz geworden wie bei einer Beere, die zu lange in der Sonne getrocknet hat.
Ein Schauer lief Tannin den Rücken hinunter.
Stechapfel starrte auf das tote Baby hinab. »Wußtest du, daß ich Turmfalke geliebt habe, Tannin?«
»H-hast du das?«
»O ja. Sehr. Mehr, als ich dir sagen kann. Ich habe sie nur zu ihrem Besten geschlagen. Weißt du, wenn sie Dinge getan hat, von denen ich wußte, daß sie ihr schaden. Verstehst du?«
»Ich verstehe.«
Stechapfel hob den Kopf und lächelte. »Wir werden Turmfalke
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