Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
sie.
»Nein.«
Der Mann gab ihr eine Tasse Tee, bevor er sich in einiger Entfernung von ihr auf dem Boden niederließ. »Es ist Minze. Ich habe die Blätter heute morgen am Rand der Quelle im Zypressenwald gesammelt.«
»Danke.« Sie stellte die Tasse neben sich.
Er blickte sie aufmerksam an. »Du mußt erlauben, daß ich nach diesem Schnitt an deiner Stirn sehe.
Ich bin ein Heiler.«
»Das bin ich auch. Ich meine … nein, nicht richtig, aber ich weiß etwas über Geistpflanzen.«
»Wirklich?« Er zeigte auf seinen Hund. »Vielleicht kannst du mir helfen, seine Räude zu heilen. Sie wird schlimmer.«
»In Fett gebratene Beeren des Pferdenesselnachtschattens werden sie heilen.«
»Pferdenesselnachtschatten? Ich glaube nicht, daß er hier an der Küste wächst. Oder vielleicht hat die Pflanze hier einen anderen Namen. Aber auf jeden Fall könnte ich sie von einem Händler bekommen.
Wann trägt die Pflanze Beeren?«
»Erst wieder in vier oder fünf Monaten.«
»Hast du das gehört, Helfer?« rief er. Der Hund richtete sich auf. »Sieht so aus, als müßtest du dich an die Räude gewöhnen. Bis zum Ende des Sommers trägt der Pferdenesselnachtschatten keine Bee-ren.
Der Hund ließ die Ohren hängen und legte seinen großen Kopf auf die Vorderpfoten.
Behutsam löste Turmfalke ein dickes Stück von der Seite ihres Fisches. Es zerging ihr im Mund.
»Wenn es hier keinen Pferdenesselnachtschatten gibt, wird es auch Schwarzer Nachtschatten oder Sandkraut tun. Nur mußt du mit dem Schwarzen Nachtschatten vorsichtig sein, weil er so giftig ist.«
Der Mann nickte anerkennend und ließ sie eine Weile in Ruhe essen. Als sie fast fertig war, fragte er:
»Wie heißt du?«
Turmfalke stellte die Schale auf den Schoß und wischte sich die fettigen Hände an ihren Mokassins ab.
Die Nachricht von Stechapfels Belohnung konnte von Händler zu Händler auch schon bis hierher gekommen sein. Dieses Risiko durfte sie nicht eingehen. »Wir werden nicht sehr lange Zusammensein, das verspreche ich dir … Woher hast du diesen Hund?« fragte sie, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.
»Helfer ist in einem Traum zu mir gekommen.« Er berührte sein Haar mit der Hand. »Derselbe Traum, von dem mein Haar weiß geworden ist. Als ich aufwachte, fand ich Helfer, der sich an mich geschmiegt hatte und mich warm hielt.«
»Ein Traum? Du bist ein Träumer?«
»Ja, ich bin ein Träumer. Du wirst mir deinen Namen wohl nicht verraten, oder?«
»Vorher hast du gesagt, daß wir aus irgendeinem Grund zusammengeführt worden sind«, sagte sie.
»Ich dachte nicht, daß Träumer -männliche Träumer - Frauen mögen.«
»Das tun sie auch nicht. Das macht die ganze Sache noch interessanter.«
»Warum sollte Mammut-Oben …«
»Es ist ziemlich schwierig, sich mit jemandem zu unterhalten, dessen Namen man nicht kennt.«
Turmfalke zupfte unbehaglich an ihrem Fisch herum, nahm noch einen Bissen und kaute langsam.
Draußen fiel der Schnee in dichten, weißen, alles verhüllenden Schwaden. Der Wind hatte gedreht und blies nun von Westen. Schwere, nasse Flocken wurden hereingeweht und bildeten einen glitzernden Saum am Eingang der Felshöhle. »Ich kann dir meinen Namen nicht verraten.«
Er nahm seine Tasse und trank. Als er sie wieder absetzte, fragte er: »Ist der Mann, der dich verletzt hat, derselbe, der dich verfolgt?«
Turmfalkes Kinn zuckte. Er bemerkte es, doch seine Miene blieb ausdruckslos. Wolkenmädchen wand sich in ihren Armen. Turmfalke versuchte, ihrer Tochter den Schnuller aus dem Mund zu ziehen, doch ihre Hand zitterte so heftig, daß sie ihn fallen ließ, danach griff, ihn wieder fallen ließ und dann liegenließ. Mit steifen Fingern mühte sie sich, ihr Kleid vorne aufzuschnüren, um das Baby an die Brust zu legen.
»Ist er es?« drängte der Mann.
»Ja.«
»Der Schnee wird deine Spuren verdecken.«
»Er w-wird mich trotzdem finden.«
Sonnenjäger saß ganz still da. Er war offenbar besorgt. »Warum verfolgt er dich?«
Als Antwort schüttelte sie den Kopf. Jeder Muskel ihres Körpers spannte sich an. Wolkenmädchen begann zu schreien, weil ihre Milch plötzlich versiegt war. »Es tut mir leid, Baby«, flüsterte Turmfalke. Sie schloß die Augen und zwang sich, tief und gleichmäßig durchzuatmen. Doch es half nichts. Wolkenmädchen schrie und schlug mit den Fäustchen um sich.
»Hier, Wolkenmädchen, wir werden es nachher noch mal versuchen.« Sie steckte ihrer Tochter wieder den Schnuller in den Mund. Das
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