Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
zu hexen …
ein Hexer wirst du sein. Welches Tier hast du gewählt?«
»Tier? Ihr meint, welches ich sein will? Ich …«
In dem Moment, als sich die Worte in seinem Geist formten, begann sein Körper zu brennen, als hätte er Feuer gefangen, und ein verstümmelter Schrei entriß sich seinen Lippen. Er sah zu, wie seine Arme sich streckten und krümmten und die Form von Riesenwolfs Vorderbeinen annahmen. Lange, gelbe Klauen sprossen aus seinen Fingerspitzen. Vor Entsetzen schäumend rollte er sich knurrend und zähneklappernd auf den Bauch - und erhob sich auf vier Beine. Er scharrte in der Erde und warf hinter sich eine Staubwolke auf. Als er an sich hinunterschaute, sah er das dichte, schwarze Fell, das seine mächtigen Gliedmaßen bedeckte. In der Glut des erlöschenden Feuers schimmerte es in einem dunklen Karminrot.
Klebkraut gelang es, ein paar unsichere Schritte zu machen. Er mußte den neuen Körper erst kennenlernen. Er hatte nie geahnt, wie viele Gerüche die Welt erfüllten. Sein Gehör hatte sich geschärft, nun vernahm er sogar das leise Rascheln der Insekten im Gras draußen. Er steckte seine scharfe Nase unter dem Türvorhang hindurch, torkelte in die Nacht hinaus - und betrat eine andere Welt aus dunklen Grautönen statt aus Schwarz. Knurrend trottete er in dem von Sternen erhellten Wald einen Wildwechsel entlang, dann erhob er die Stimme zu einem unheimlichen, von den Vorbergen widerhallenden Geheul. Ein Blitz zuckte aus dem wolkenlosen Himmel und schlug in eine nahe gelegene Hügelkuppe ein.
Der Donner folgte Klebkraut, als er über trockenes Geäst sprang und sich Hals über Kopf zwischen die Bäume stürzte.
20. KAPITEL
Turmfalke hatte einen Alptraum und stöhnte leise. Sie war wieder allein und stand am Fuß des Hügels, auf dem das Wacholder-Dorf lag. Wieder hörte sie, wie Eiskrauts rauhe Schreie die Nacht durchdrangen. Vor dem lodernden Hintergrund des Dorffeuers ließ Stechapfel brutal seine Kriegskeule auf Eiskrauts Kopf niedersausen. Eiskrauts Knie knickten ein …
Turmfalke versuchte zu schreien, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt, und kein Laut kam heraus. Sie warf sich herum und wäre fast aufgewacht.
Irgendwo weit weg schlugen Wellen gegen eine Küste, und der Wind heulte. An einem Feuer wurde Fisch gebraten, der Geruch war süß, lecker…
Stechapfel zog sein Messer aus dem Gürtel und stieß es in Eiskrauts Bauch, dann sägte er damit nach oben. Ein leiser, verzweifelter Schrei kam von Eiskrauts Lippen.
Turmfalke versuchte, zu ihm zurückzulaufen, um ihn zu retten, aber ihre Füße kamen nicht von der Stelle. »Eiskraut!«
Der Boden unter ihren Füßen begann zu beben. Durch das Getöse des Erdbebens hindurch hörte sie das Schnauben und Brüllen eines Kurzschnauzenbären. Turmfalke taumelte angsterfüllt hin und her.
Noch nie hatte sie von den Geistern-der-Bebenden-Erde eine solche Wut erlebt. Im Land des BärSchaut-Zurück-Klans kamen solche Erdbeben selten vor, und wenn, dann waren sie nur sehr kurz.
Dieses Beben jedoch wurde stärker und stärker, bis es die Welt erschütterte. Umstürzende Bäume krachten ineinander, und das Donnern wurde zu einem ohrenbetäubenden Getöse. Oder war es der Bär, der so brüllte?
»Eiskraut!« schrie sie wieder.
»Lauf« rief Eiskraut schwach. »Lauf, Turmfalke!«
Die Geister in ihrer Wut verspotteten ihn, sie zogen den Boden unter Turmfalkes Füßen weg und warfen sie kopfüber auf einen Felshaufen. Sie fiel, rollte sich zusammen, um ihren schwangeren Leib zu schützen, und traf hart mit der linken Schulter auf. Um sich schlagend und nach Atem ringend versuchte sie, von den umstürzenden Bäumen wegzukriechen, doch mit einem betäubenden Knall riß die Erde vor ihr auf. Ein zischender Spalt öffnete sich und spie heißen Dampf in die Luft. In dem wirbelnden Nebelschleier versuchte sie, einen Namen zu rufen, den mächtigsten Namen, den sie sich vorstellen konnte, doch nicht einmal sie selbst konnte es hören.
Die Geister-Der-Bebenden-Erde zertrampelten ihn zu Staub …
»Ruhig, ruhig«, drängte sich eine unbekannte Stimme in den Traum. »Du bist in Sicherheit. Alles ist in Ordnung.«
Turmfalke merkte, wie sie weggeschleppt wurde, kletterte, kletterte … Entsetzen und das Gefühl der Sinnlosigkeit überkamen sie, und sie weinte leise. Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie konnte ihren Körper wieder spüren. Er fühlte sich an wie eine im Sommerwind schwebende Feder. Sehr müde, aber auch ganz warm. Zum ersten Mal seit
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