Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
angefaulten Baumstamm direkt vor den Flammen und hatte die Hände im Schoß zusammengelegt. Die hitzige Diskussion war seit Sonnenuntergang im Gange. Wieder konnte er den Wald unter der Gewalt des Sturms kreischen und ächzen hören. Inzwischen bedeckte der Schnee den Boden schon vier Handbreit hoch. Die Kiefernzweige bogen sich unter seiner Last, und das Unterholz war so dicht mit Schnee überzogen, daß die größeren Büsche wie auf Beute lauernde weiße Löwen aussahen.
Milan ging auf der gegenüberliegenden Seite des Feuers hin und her. Trotz der Kälte glänzten seine flache Nase und die kräftige Stirn von Schweiß.
Stechapfel verfolgte jede von Milans Bewegungen mit feindseligen Blicken, obwohl er neben Tannin saß und seinen Tannennadeltee mit äußerster Ruhe trank.
Milans drei Brüder - Feuerstein, Schwindler und Rabenlicht -saßen hinter Milan auf Holzkloben, die sie zum Lager geschleppt hatten. Keiner von ihnen konnte mehr als neunzehn oder zwanzig Sommer gesehen haben, doch alle waren sie überdurchschnittlich groß und hatten runde Gesichter mit breiter Stirn. Schultern und Haar waren mit einer dichten Schicht Schnees überzogen, die sie alle wie alte Männer aussehen ließ.
Milan nahm den Streit wieder auf. »Ich werde nicht einfach hier bleiben und nichts tun!« erklärte er scharf. Er preßte die Lippen zusammen. Der Feuerschein ließ sein Gesicht leichenblaß erscheinen.
»Wir müssen weiter nach ihr suchen.«
»Dann geht.« Stechapfel machte eine Geste, mit der er sie wegschickte. »Wir brauchen eure Hilfe nicht, um meine Frau zu finden.«
Milan stieß den Finger wie einen Dolch gegen Stechapfel. »Hör zu, alter Mann! Deine Frau hat unseren Bruder ermordet. Wir müssen sie bald finden, damit wir heimgehen und unserem Klan alles berichten können.« Er warf die Arme hoch. »Ich verstehe nicht, warum du diesen Ort nicht verlassen willst.«
Ein kaltes Lächeln kräuselte Stechapfels welke Lippen. Er hob sein Gesicht nach oben, dem fallenden Schnee entgegen. »Ihr seid alle Kinder«, sagte er, »und nicht alt genug, um irgend etwas über Spurenlesen zu wissen. Ich kann einen Vogel in der Luft verfolgen. Aber ihr…«
Milan schnaubte verächtlich, und Stechapfel sprang auf und starrte ihn mit tödlicher Wut in den Augen an. Milans Brüder flüsterten verärgert miteinander, und Tannin sah, daß Feuerstein den Atlatl in seinem Gürtel fest umklammert hielt.
Tannin legte die Hand auf Stechapfels Arm. »Bitte, Stechapfel, erkläre ihnen, warum du hierbleiben willst.«
»Sie sind blind. Niemals werden sie das Vorgehen eines großen Spurensuchers verstehen.«
Streitsüchtig reckte er das Kinn vor. »Warum sollte ich meinen Atem verschwenden?«
»Bitte«, flüsterte Tannin eindringlich. »Sie wollen Turmfalke genauso dringend finden wie du. Wenn du es erklärst…«
»In Ordnung!« schrie Stechapfel und entwand sich Tannins Griff. Der Wind zerrte an den grauen Strähnen um sein Gesicht. Er ballte die Faust. »Hört mir zu!«
Milan richtete sich auf. »Wir hören dir zu, alter Mann. Was hast du zu sagen?«
Stechapfel öffnete den Mund über seinen lückenhaften, gelben Zähnen. »Es ist nicht das gleiche, einen Menschen zu verfolgen oder einen Hirsch, Junge. Völlig unterschiedliche Fähigkeiten sind erforderlich. Menschen bleiben nicht immer auf dem Boden. Sie werden versuchen, dich reinzulegen.
Sie klettern auf Bäume und hangeln sich von Ast zu Ast durch einen Wald, oder sie hüpfen wie ein Eichhörnchen durch Anhäufungen trockener Äste. Meine Frau weiß, daß sie um ihr Leben läuft. Sie wird keine Spuren zurücklassen, die ihr verfolgen könntet. Ihre Spur wird kaum zu erkennen sein. Nur ich weiß, wie sie denkt und was sie wahrscheinlich tun wird.«
Milan starrte Stechapfel finster an. »Und wie lange müssen wir hierbleiben, bevor wir die Suche fortsetzen können?«
»Bis der Schnee schmilzt.«
»Schmilzt!« schrie Feuerstein wütend hinter Milan hervor. »Das kann eine Woche und länger dauern.
Bis dahin dürfte sie bis zum Gepardenpfoten-Dorf im Norden gekommen sein.«
Stechapfel warf seine Holztasse zu Boden und keuchte vor Wut. Die Finger an seinen herabhängenden Armen krümmten sich. »Glaubt ihr nicht, daß auch ich sie schnell finden will? Sie hat meinen Sohn ermordet.«
»Warum können wir dann nicht…«
»Darum!«
Das Echo hallte im Wald wider. Die Eulen, die bisher durch die Nacht gerufen hatten, wurden unheilverkündend still.
Stechapfel fuhr leise fort: »Erst
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