Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
es!«
Tannin schloß die Augen und ließ den Kopf wieder sinken. Er hörte kaum, wie Milan, gefolgt von seinen Brüdern, zu den Schlafdecken gingTannin ließ seine Gedanken wandern. Hier und da verweilte er länger. War es schon so lange her, daß Stechapfel und er die besten Freunde gewesen waren? Ja, dreißig Jahresumläufe. Tannin war der »Dorfzwerg« gewesen, er war damals klein und drahtig, und keiner mochte ihn. Stechapfel hatte ihn immer verteidigt. Wann immer ein Junge Tannin auslachte oder verspottete, hatte Stechapfel den rechten Moment abgewartet, den Jungen allein abgefangen und ihn so lange mit den Fäusten bearbeitet, bis er sich ;,ergab« und versprach, Tannin nie wieder zu verspotten.
Er war so stolz auf seinen großen Bruder gewesen, den er für den größten Helden der Welt gehalten hatte.
Tannin faltete die Hände im Schoß und starrte verloren in die flackernden Flammen. Der Bruder, den er so sehr geliebt hatte, war verschwunden - aber wohin? Hatten die langen Monde der Einsamkeit auf den Handelspfaden ihn so verändert? Oder war er erst nach der Entdeckung von Turmfalkes Untreue zerbrochen?
Drei Nächte hintereinander hatte Tannin merkwürdige Träume gehabt, Alpträume von der Zeit, als Turmfalke blutig und zerschlagen zu seiner Hütte gekommen war und um Aufnahme gebeten hatte.
Als wollte sie ihn quälen, erinnerte sich seine Seele an die Worte von Rufender Kranich: »Sie ist so unglücklich, Tannin. Dein Bruder schlägt sie ständig.«
»Warum verläßt sie ihn dann nicht? Ich denke, es gefällt ihr, die Frau eines bedeutenden Händlers zu sein.«
»Sei nicht dumm. Sie hat entsetzliche Angst davor, ihn zu verlassen. Sie fürchtet, daß er sie dann tötet.
Jetzt droht er nur. Und wie viele Monde im Jahresumlauf ist er als Händler unterwegs, eh, Tannin?
Sag mir das mal.«
Tannin hatte mit den Schultern gezuckt. Doch inzwischen wußte er die Antwort: »Zu viele Monde.«
War es das, was Turmfalke in die abscheuliche Beziehung mit Eiskraut getrieben hatte: Stechapfels Abwesenheit?
Er sehnte sich danach, zu Hause zu sein und in den Armen von Rufender Kranich zu liegen. Doch er konnte seinen Bruder jetzt nicht verlassen. Vielleicht würde Stechapfels Seele wieder zum Leben erwachen, wenn sie Turmfalke gefunden hatten.
Er betete darum.
Bis tief in die Nacht hinein saß er auf dem Baumstamm und starrte in die niederbrennenden Flammen.
Tannin wälzte sich unter seinen Felldecken hin und her. Er stieß zusammenhanglose Wortfetzen aus und rief die Namen längst verstorbener Menschen. Die Bilder des Alptraums schlichen sich leise wie auf Pumasohlen an ihn heran. Er erinnerte sich vage, daß er und Stechapfel auf der Jagd nach Turmfalke das Wacholder-Dorf verlassen hatten, doch die Szenen aus seiner Vergangenheit trieben vor seine Augen und löschten alles andere aus. Er fühlte sich, als wäre die Zeit an ihm vorbeigefegt und hätte ihn irgendwo, im zeitleeren Raum erstarrt, abgesetzt.
»Nein, Vater!« Das Echo seiner vier Sommer alten Stimme hallte durch seine Seele.
Gräßliche Gesichter und wirre Szenen wirbelten durch seinen Traum: seine Mutter und sein Vater, sein toter Bruder, ein Säugling, der nicht lange genug gelebt hatte, um einen Namen zu erhalten, das mit dichten Weiden umstandene Lager in der Gänsefußau. Tannin kämpfte, um die Bilder zu verdrängen, um dem Entsetzen zu entkommen, aber es gelang ihm nicht…
Er und Stechapfel hockten zusammengekauert außerhalb der Grashütte ihrer Familie und hörten zu, wie ihre Eltern sich drinnen stritten. Sein Magen tat so weh, daß er fürchtete, sich übergeben zu müssen. Sie stritten sich jeden Tag, aber nicht so. Die rauhen Schreie seiner Mutter durchdrangen den wolkenverhangenen Nachmittag wie scharfe Lanzen. Er blickte auf Stechapfel. Das Gesicht seines großen Bruders war wie versteinert, doch die Augen flammten vor Zorn. Stechapfel war mit vierzehn schon ein Mann, aber noch unverheiratet.
»Ich habe es nicht getan!« schluchzte Flammentaube, Tannins Mutter, verzweifelt. »Tu mir nicht weh, Blauer Krieger! Ich bin unschuldig!«
»Du bist eine Hure!« schrie sein Vater. Es folgte ein klatschendes Geräusch. Dann noch eines. Tannins Mutter schrie gellend. Irgend etwas schlug hart auf dem Boden auf. Der Körper seiner Mutter? »Ich habe dich bei Abendsterns Hütte gesehen. Was hast du da getan? Ich habe gesehen, wie du hineingegangen und erst nach einer ganzen Weile wieder herausgekommen bist!«
»Seine Frau ist krank. Ich
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