Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
habe gekocht und saubergemacht.«
Tannins kleiner Bruder begann leise und schrill zu weinen. Tannin ließ seinen Arm um Stechapfels gleiten und schaute entsetzt auf. Ihr kleiner Bruder war erst drei Monde alt.
»Stechapfel!« flüsterte Tannin. »Vater tut unserem Bruder doch nichts?« Tannin liebte seinen kleinen Bruder und machte sich ständig um ihn Sorgen. Er hatte mit ansehen müssen, wie ein Bruder und eine Schwester am Fieber gestorben waren. Obwohl das vor einem Jahresumlauf gewesen war, erinnerte sich Tannin lebhaft an die Bestattungen. Noch immer konnte er vor seinen inneren Augen die leuchtend bunten rituellen Gewänder sehen, die die Leute an diesem Tag getragen hatten. Im strahlenden Licht der Sonne glänzten Muscheln und feine Stickereien aus Stachelschweinborsten, als die Menschen den Pfad zum Berggipfel hinaufgingen. Das Klagegeschrei konnte man einen Tagesmarsch weit hören.
»Ich weiß es nicht«, gab Stechapfel flüsternd zurück. Seine Blicke zuckten hin und her wie die von Adler auf der Jagd.
Tannin biß sich auf die Lippen, dennoch liefen Tränen über seine Wangen. Die Dörfler standen lauschend und flüsternd auf dem Dorfplatz und schauten zu ihm herüber. Doch er wußte, daß niemand eingreifen würde. Sein Vater war das Oberhaupt des Dorfes und sehr mächtig. Überall auf der Seenplatte hatte er Verbindungen. Nur jemand, der sehr kühn war, würde es wagen, Blauer Krieger entgegenzutreten. Es war das Recht eines Ehemannes, seine Familie zu züchtigen.
Die zehn Grashütten ihres Dorfes standen auf dem moosbewachsenen Flachland um den Gänsefußsumpf herum. Jetzt, zu Beginn des Frühjahrs, waren die frisch gedeckten Dächer so grün, daß sie mit dem Schilf und den Rohrkolben der Umgebung verschmolzen. Auf der ruhigen Oberfläche des am nächsten gelegenen Teiches schwammen schnatternde Enten, doch immer, wenn Stechapfels Mutter aufschrie, verstummten die Vögel.
»Blauer Krieger, ich bitte dich, hör auf! Laß mich nach deinem Sohn schauen. Er ist hungrig und fürchtet sich.« »Ist er mein Sohn?«
»Natürlich ist er das. Wie kannst du es bezweifeln? Ich habe nie …« Ein weiterer Schlag war zu hören, gefolgt von ersticktem Schluchzen. Tannins Vater schob den ledernen Türvorhang beiseite und zerrte seine Mutter an den Haaren heraus. Sie taumelte und fiel. Mit den Knien schlug sie hart auf den Boden, und Blauer Krieger trat brutal zu. Ihr Gesicht war blutbedeckt.
»Nein, Vater!« Tannin sprang auf die Füße. Seine kleine Brust tat so weh, daß er kaum atmen konnte.
Er rannte vier Schritte nach vorn. »Schlag meine Mutter nicht!«
Blauer Krieger zuckte zusammen, drehte sich dann langsam um und starrte Tannin an. Dessen Knie wurden weich, er begann zu schluchzen. Stechapfel stellte sich schnell an Tannins Seite und hielt seine Hand.
Flammentaubes Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie schrie: »Stechapfel, nimm Tannin und lauf zu Großvaters Hütte! Tu es! Mach schon! Jetzt!«
Stechapfels Unterlippe zitterte. Er preßte Tannins Hand und schrie: »Mutter, das ist dein Fehler!
Warum mußt du Vater immer in Wut bringen? Warum hörst du nicht auf, die Dinge zu tun, die ihn so außer sich geraten lassen?«
Die Worte schockierten Tannin so, daß er aufhörte zu schluchzen, um zuzuhören. Nie war ihm der Gedanke gekommen, daß seine Mutter die Schläge verdiente, die sie mit solcher Regelmäßigkeit bekam. Was hatte sie getan? Hatte sie Abendstern etwas Böses getan?
»Stechapfel«, befahl Flammentaube ängstlich, »geht zur Hütte deines Großvaters! Beeilt euch!«
»Du machst für jeden Mann die Beine breit!« schrie Stechapfel schrill und ließ Tannins Hand los. »Ich habe Geschichten gehört, Vater. Eine Menge Geschichten über Mutter. Alle sagen, sie ist wie eine läufige Hündin.«
Blauer Krieger riß Flammentaube am Haar, und sie schrie auf, als er ihren Kopf auf die Erde drückte.
»Hörst du das, Flammentaube? Die Geschichten haben selbst die Ohren deiner Söhne erreicht.«
»Stechapfel, lauf!« Sie weinte. »Nimm Tannin und geh … Bitte! Lauf!«
»Nein, Stechapfel. Du und dein Bruder, ihr sollt Zeugen sein. Seit Jahresumläufen weiß ich über eure Mutter Bescheid. Ich habe sie nur bei mir behalten, weil ich wußte, daß ihr Jungen sie liebt. Aber jetzt…« Seine Augen trübten sich von einem solchen Haß, daß Tannin sich an Stechapfels Hüfte festklammerte. Blauer Krieger lachte und sagte: »Das muß ich sie büßen lassen. So hält es unser Volk.
Ich möchte,
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