Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
einen unglücklichen Eindruck.
»Ich fühle mich heute sehr einsam, Turmfalke.«
Ohne ein weiteres Wort machte er kehrt und schleppte sich den Strand entlang. Der über seine rechte Schulter gehängte Köcher schwang bei jeder Bewegung mit.
Turmfalke sah, wie er nach einem Stein trat, und als sie ihm folgte, blieb sie absichtlich zurück, so daß er mit sich allein sein konnte.
Die Nachmittagssonne schien hell auf Klebkraut herab. Er trottete die Oberkante des Kliffs entlang.
Geröll knirschte unter seinen Pfoten. Der Wind war wärmer geworden und führte den Geruch vieler Tiere mit sich: Kaninchen, Mäuse, Vögel, Hirsche, sogar Mammuts. Sein leerer Magen knurrte. Der Wind streichelte sein schwarzes Fell wie eine sanfte Menschenhand. Klebkraut lief zwischen den auf dem Fels wachsenden Zypressen hindurch und umkreiste sie neugierig. Er wunderte sich über ihre gekrümmten Äste und ihren knorrigen Wuchs.
Vater Sonnes Strahlen überzogen die immergrünen Nadeln wie mit blaßgelbem Honig. Wie durch Magie waren in den letzten zwei Tagen die ersten Schmetterlinge aufgetaucht und flatterten mit ihren orangefarbenen, gelben und weißen Flügeln in dichten Schwärmen über die Wiese. Er hatte ein paar von ihnen gefressen, aber sie halfen nichts gegen den Hunger, und ihre Flügel überzogen seine Zunge mit einem ekligen Kreidegeschmack. Am liebsten schienen sie das Barbarakraut und die Senfblüten zu haben. Ganze Pflanzen waren über und über mit Schmetterlingen bedeckt.
Klebkraut sprang über einen alten Baumstumpf und trottete einen Hirschpfad entlang, der von der Oberkante des Kliffs über ein schmales, gewundenes Felsband zum Strand hinabführte. Die Luft war vom beständigen Brüllen Mutter Ozeans erfüllt. Auf dem Wasser lag ein blendender Überzug aus Licht, der auch die Zwergeninsel einhüllte. Die Kiefern auf den drei Hauptgipfeln der Insel schienen in der Sonne zu feurigem Gold geworden zu sein.
In einiger Entfernung konnte er den alten Dorfplatz sehen. Plötzlich versetzte ihm das Heimweh einen Stich. Sein ganzes Leben lang hatte der Wellenschlag der Mutter ihn getröstet und beruhigt, das Geschrei der Weißkopf-Seeadler und das Brüllen der Löwen hatten ihn begleitet. Das alles fehlte ihm, obwohl das Leben hier für ihn die Hölle gewesen war. Fast alle hatten ihn mit Verachtung behandelt.
Es erschien ihm nun merkwürdig, daß er das so lange ertragen hatte. Hätte er nur die Macht der: Hexerei früher gekannt! Dann hätte er sich an allen rächen können, die es je gewagt hatten, ihn geringschätzig zu behandeln, und niemand hätte dem einen Riegel vorschieben können. Mit Riesenwolfs Beinen konnte er ziemlich schnell enorme Entfernungen zurücklegen. Er konnte so schnell angreifen, töten und wieder verschwinden, als wäre er nur ein vom Mondlicht geworfener Schatten.
Klebkraut hob drohend die Lefzen. Alle werden sie mir dafür büßen. In diesem Körper wird die Schwäche des Alters mich nicht berühren. Und wenn ich den Rest meines Lebens dafür brauche, ich werde jeden einzelnen suchen, der mich auch nur schief angeblickt hat…
Plötzlich blieb er stehen und richtete die Ohren auf. Vor ihm wanderten zwei Menschen den Strand entlang. Ein großer Mann und eine sehr kleine Frau. Konnte das wahr sein? Er hob die Schnauze witternd in die Meeresluft.
In seinen Adern kribbelte es. Vorsichtig machte er einen Schritt zurück. Sonnenjäger und die Frau mit dem Baby! Ja, er konnte beide am Geruch erkennen. Sein Magen verkrampfte sich vor Angst. Er begann keuchend zu hecheln. Warum hatte er solche Angst vor Sonnenjäger? Als Mensch … Ja, das war gut verständlich. Aber als Riesenwolf? Was konnte Sonnenjäger ihm anhaben?
Dos ist das Problem. Du weißt es nicht. Was können Träumer Hexern antun? Er hatte nie davon gehört, daß ein Träumer einen Hexer auch nur herausgefordert hätte. Würde ein Träumer das vielleicht nicht wagen?
Seine Furcht wich der Neugier. Was für eine großartige Erfahrung würde es sein, in der Gestalt des Riesenwolfs gegen Sonnenjäger zu kämpfen. Klebkraut konnte ihm ja ohne Anstrengung die Kehle aufreißen. Es würde herrlich sein, Sonnenjäger verbluten zu sehen.
Als er das erste Mal im Körper des Riesenwolfs die Küste entlanggelaufen war, hatte er Sonnenjägers Felsenhöhle entdeckt und den Schein seines Feuers im dunklen Meer widergespiegelt gesehen.
Und dort hatte er auch die Frau gerochen, aber nichts daraus gefolgert. Warum war Sonnenjäger eigentlich mit einer
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