Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
durcheinander in der Wüste, als hätten spielende Götter Bälle dorthin gerollt. Kakteen blühten am Fuße der Felsen wie gelbe Fransen. Je näher sie den runden Felsbrocken kam, desto lauter wurde Sonnenjägers Stimme. Turmfalke konnte fühlen, wie sie gegen die erstickend heiße Luft anschlug.
»Sonnenjäger!« rief sie. »Wo bist du? Ich kann dich nicht sehen!«
»Turmfalke… Turmfalke… Ich bin hier drüben!«
Sie kletterte über eine niedrige Erhebung und traf bald danach auf ein Gewirr von Pfaden. Abrupt blieb sie stehen. Staubspiralen stiegen auf, wirbelten zum Himmel empor und senkten sich dann herab.
Ein Schauer von Sandkörnern rieselte auf Turmfalke. Sonnenjägers Stimme schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen und doch Nirgendwoher. Sie ließ den Blick über die Landschaft gleiten, folgte den ausgetrockneten Schluchten mit den Augen und sah zu den roten Spitzen auf.
»Sonnenjäger…«
Welche Richtung sollte sie einschlagen? Turmfalke betrachtete das Gewirr der Wege. Sie ähnelten einem durcheinandergeratenen und halbaufgelösten Knäuel aus Yuccafasern. Ein Strang lag auf dem anderen, und Schlaufen führten in alle Richtungen.
»Turmfalke… Turmfalke…!«
Der Klang seiner Stimme ließ sie außer sich geraten. »Wo bist du, Sonnenjäger? Ich bin an einem Knotenpunkt angelangt. Ich weiß nicht, welchen Weg ich einschlagen soll.«
»Ich bin hier. Hier!«
Turmfalke lief auf dem Weg, den sie gekommen war, zurück und versuchte, seine Spur zu finden.
Doch auf dem Sandboden war nur der Abdruck ihrer eigenen Mokassins zu sehen.
Eine neue Stimme rief sie. »Turmfalke!« Die Stimme klang wie ein Akkord, als sprächen mehrere Menschen auf einmal. »Turmfalke, du wirst Sonnenjäger niemals finden, wenn du auf den Pfaden bleibst. Jemand hat sie verhext. Du mußt über sie hinwegfliegen. Sag das Sonnenjäger. Er muß fliegen.«
Sie wirbelte herum und suchte die Felsen ab. »Wer bist du?«
»Los, Turmfalke! Flieg über die Pfade! Flieg… du mußt fliegen.«
»Ich kann nicht fliegen. Ich bin kein Träumer.«
»Versuch's. Versuch zu fliegen. Komm schon, Turmfalke. Du kannst es. Breite einfach die Arme aus …«
Sie drehte sich um, rannte los und sprang mit ausgebreiteten Armen über das Chaos. Als sie dicht über dem Gewirr der Pfade in der Luft schwebte, konnte sie feststellen, aus welcher Richtung Sonnenjägers Stimme kam. Sie war voll Freude. Beim Laufen schlugen ihre Füße auf den Boden. Sie lief auf einen orangefarben Sandsteinkegel zu, der wie ein Feuer am östlichen Horizont glühte, und ließ ihn nicht aus den Augen.
»Sonnenjäger, ich komme!«
Hunderte von Pfaden kreuzten ihren Weg, aber sie achtete nicht darauf. Pfeilgerade schoß sie, das Gewirr der Pfade spaltend, quer über die Windungen hinweg.
Und durch irgendeine Zauberei, die sie nicht verstand, schien sie von hoch oben auf die Wüste hinabzuschauen. Als betrachtete sie ein von Kindern beim Fadenspiel gewebtes Gebilde, konnte sie den einen Faden erkennen, der mit seinen Verwicklungen das Chaos bildete. Er führte zum Herzen des Labyrinths, und dort waren beide Enden mit einem Knoten verbunden.
Der Knoten ähnelte einer von tiefen Schatten erfüllten Schlucht… Wie das Loch, durch das Wolfsträumer die Menschen in die Welt des Lichts geführt hat.
So schnell sie konnte rannte sie vorwärts. Ihr schimmerndes schwarzes Haar wehte im Wind. Ihr schmaler Körper fühlte sich wieder jung an, als hätte er nie geboren und nie Schläge erdulden müssen.
Ein Gefühl absoluter Freiheit ergriff von ihr Besitz. Ihre bestickten Mokassins schienen den glühendheißen Wüstensand kaum zu berühren.
Die schreckliche Last auf ihrer Seele verschwand. Turmfalke machte sich nicht länger Sorgen, ob Stechapfel sie finden würde oder nicht. Hier existierte ihr Mann nicht. Sie fühlte sich, als wäre sie aus ihrem Leben heraus in das einer anderen getreten. Und diese andere war glücklich.
Zu beiden Seiten erhoben sich steile Berge. Ihre stumpfen Nasen schienen an Bruder Himmels Bauch zu riechen. Der Wind blies rote Sandwirbel von den Felskämmen, die sich in Spiralen gen Himmel wanden.
»Turmfalke, hörst du mich? Wo bist du? Bist du auf dem Weg?« »Ich bin hier, Sonnenjäger! Ich folge dem Klang deiner Stimme. Ruf meinen Namen immer wieder!« » Turmfalke … Turmfalke…
Turmfalke …« Er klang so einsam, so verloren.
Sie trieb dahin wie der Wind. Es ging einen steilen, mit Salbei bewachsenen Einschnitt hinunter und auf der
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