Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
wuchs es und wuchs …
»Ich möchte einer von euch werden! Ich habe es satt, mich in Tiere zu verwandeln!« rief Klebkraut.
»Gebt mir Flügel!«
Silberne Augenpunkte lösten sich aus den verstreuten Flecken des Mondlichts.
»Oh, da seid ihr ja. Ich dachte, ihr wäret verschwunden. Ihr haßt mich, nicht wahr? Nun, das ist mir egal. Hört ihr mich? Ich werde mir Flügel wachsen lassen, ob euch das nun gefällt oder nicht.« Er schob schmollend die Unterlippe vor. »Ich muß Libellenflügel haben!«
Die Augen blinkten auf und verschwanden dann wieder, blinkten auf und verschwanden wie eine Million winziger, durch die Bäume fallender Sterne.
Klebkraut kam mühsam auf die Beine. »Ich werde ein Donnerwesen sein!« brüllte er wütend. »Ich kann alles erreichen!«
»Vater, Vater, hörst du mich?« fragte der Junge aus dem getrockneten Mund seines geräucherten Körpers heraus. »Vater, wach auf.«
Stechapfel wachte auf und blinzelte in das Dämmerlicht der aus Zweigen errichteten Hütte. Die Wände hatten so breite Lücken, daß das Mondlicht ins Innere fiel. Der Schatten ihrer Reisebündel zeichnete sich vom Licht umrissen auf dem Boden ab, und die Felldecken waren wie mit einer glühenden Schicht flüssigen Silbers überzogen. »Was? Wer hat mich gerufen?« Stirnrunzelnd stützte er sich auf einen Ellbogen. Seine Wangen wirkten in der Dunkelheit wie weiße Säcke.
»Ich, Vater«, stieß der Junge müde hervor. »Ich muß dir etwas sagen.«
»Was, mein Sohn?«
Es schmerzte den Jungen, das zu tun, was dieser Mensch von ihm verlangte. Was für eine größere Strafe hätte man ihm auferlegen können? Er fragte sich, warum der Mann ihm befohlen hatte, Stechapfel das zu sagen, was er wissen wollte.
,Mutter ist an der Küste in der Nähe der Zwergeninsel. Sie lebt, und es geht ihr gut. Und dieser Hexer, von dem ich dir erzählt habe, ist so überheblich geworden, daß er noch Schaden nehmen wird. Er hat keine Lust mehr, in Tierkörper zu schlüpfen und in dieser Gestalt zu rennen und zufliegen. Jetzt will er ein Donnerwesen werden.«
Plötzlich setzte sich Stechapfel auf. »Weiß deine Mutter, daß ich sie verfolge?« »Sie vermutet es. Das ist alles. Sie kann nicht glauben, daß du sie jemals gehen lassen würdest.«
»Und wo ist dieser Hexer, den ich suchen soll?«
»In den Vorbergen.«
Die Seele des Jungen rollte sich zu einer engen Spirale zusammen und lag ruhelos in dem toten Körper. Sie schaute zu, wie der Mann, den sie mehr als alles andere haßte, in den Schlaf zurücksank.
,Mann! Mann, kannst du mich hören?«
»Ja, Junge. Ich höre dich.« Die flüsternde Stimme wurde vom wirbelnden Nachtwind in die Zweighütte getragen.
»Ich ertrage das nicht, Mann. Ich fühle mich schmutzig. Ich ich hasse mich selbst ebensosehr, wie ich Stechapfel hasse. Warum willst du, daß ich das tue? Was soll ich aus dem Verrat an meiner Mutter lernen?«
Die Stimme des Mannes klang wie vom Wind verweht. »Oh, sehr viel, Junge. Nur wenn eine Seele lernt, ihrem eigenen Willen zum Wohle der Macht Gewalt anzutun, kann sie hoffen, die Welt zu retten.«
Der Mann hielt inne, und der Junge glaubte ein verzweifeltes Stöhnen im Wind zu hören. »Junge, weißt du, daß ich nach meinem Tod und meiner Ankunft im Land der Toten ein volles Jahrtausend in Verzweiflung verbracht habe, weil die Macht mich gezwungen hatte, meinen eigenen Bruder zu töten?«
»Du … du mußtest deinen Bruder töten?«
»Ja.
Der Junge dachte darüber nach. Wie konnte die Macht von ihren auserwählten Träumern solche schrecklichen Dinge verlangen? Was für Absicht konnte die Macht mit einem solchen Elend verfolgen? Der Mann würde doch wohl nicht von ihm verlangen, daß er seine eigene Mutter tötete?
Die Seele des Jungen zitterte vor Furcht. Er konnte sich nicht zwingen, diese Frage zu stellen, also wollte er statt dessen wissen: »Wieso hast du dann schließlich aufgehört zu trauern, Mann?«
»Ich habe entdeckt, daß meine Seele einer Ledertasche vergleichbar ist, die statt mit Fleisch mit meinen Gedanken, Selbstvorwürfen und Ängsten erfüllt ist. Wenn man eine solche Ledertasche lange Zeit ungeöffnet liegen läßt, dann verrottet der Inhalt. Also habe ich die Tasche umgekehrt und den Inhalt in die Dunkelheit des Landes der Toten geleert.«
» Und das hat geholfen?«
»Ja, wie du siehst. Ich hatte die Lektionen meiner Freundin Reiher während meines Lebens nicht vollständig gelernt - ihre Lektionen über das Eine, das Nichts und die Leere.
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