Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
in die Nase.
Das hast du dir nur eingebildet. Seit einiger Zeit sagte sie sich das immer wieder, aber die Stimme war in ihrer Seele haftengeblieben wie ein giftiger Geschmack auf der Zunge.
Das ist, weil du dem Ziel so nah bist. Darum glaubst du seine Stimme zu hören. Sie ist nicht wirklich, Turmfalke. Sie kann nicht wirklich sein. Bitte, Mutter Ozean, laß nicht zu, daß sie wirklich ist.
Wolkenmädchen schlief in ihrem Sack, und Turmfalke betete, daß es dabei bleiben möge. Die Dunkelheit, das Rauschen des Windes und der Klang der männlichen Stimmen aus dem Lager jenseits der Bäume würden ihre eigenen Geräusche völlig überlagern. Die Stimmen klangen unbekannt, aber einen Moment hätte Turmfalke schwören können, Stechapfels rauhes Lachen gehört zu haben.
Vorsichtig richtete sie sich hinter einem struppigen Gebüsch auf und teilte die Zweige. Auf der Hügelkuppe standen zwei große, mit Häuten bedeckte Zelte. Im flackernden Schein der Feuer auf dem Dorfplatz bewegten sich Menschen.
Turmfalke hörte das Lachen von Kindern und das spielerische Knurren von Hunden. Eine Frau sprach mit leiser, melodischer Stimme.
Das Otter-Klan-Dorf? Ihre Brust schmerzte, als würde sie vom Fuß eines Mammuts zerquetscht.
Turmfalke wäre so gerne aufgestanden und ohne anzuhalten den Pfad hinaufgerannt. Doch sie ließ ihren Blick weiterwandern.
Ungefähr einen Speerwurf weit südlich von ihr erhellte ein kleines Lagerfeuer die Dunkelheit. Drei Männer hatten sich um die lodernden Flammen versammelt, einer von ihnen lag mit dem Rücken ihr zugewandt auf der Seite. Graues Haar hing ihm über die Schultern.
Turmfalke zitterte plötzlich so heftig, daß sie sich an ihrem Ausguck Mühe geben mußte, die Zweige langsam loszulassen, damit sie nicht im Wind gegeneinanderschlugen.
Mutter Ozean, o Mutter Ozean …
Sie ballte die Hände zu Fäusten, damit sie aufhörten zu zittern.
Wenn das Dorf auf der Hügelkuppe das Otter-Klan-Dorf war und sie Stechapfel erlaubt hatten, neben ihnen sein Lager aufzuschlagen, dann hatten sie sie schon der Verbrechen für schuldig befunden, deren ihr Mann sie anklagte.
Ein trockenes Schluchzen schüttelte sie. Turmfalke rollte sich auf der Seite zusammen und grub die Finger in den Waldboden. Wie weich er sich anfühlte, und wie tröstlich es war, die Wange daran zu schmiegen. Um sie herum stieg der Duft feuchter Erde in einem süßen, unsichtbaren Schleier auf.
Doch wie ein schleichender Meuchelmörder drang die entsetzliche Wahrheit in sie ein.
Es gab keine Zufluchtsstätte.
Es hatte nie eine gegeben.
Der Weg, der sie in die Sicherheit von Eiskrauts Familie hätte führen sollen, hatte ins Nichts geführt.
Einfach ins Nichts. Sie hatte sich den Zufluchtsort nur vorgestellt, so wie sie sich ein Baby vorgestellt hatte, ehe sie eines bekam, oder so, wie sie über die Wiese auf den Hügel blicken und sich vorstellen konnte, er sei mit tiefem Schnee bedeckt, obwohl in Wirklichkeit erst in sieben Monaten Schnee dort liegen würde.
Sie hatte sich die Zufluchtsstätte aus den Fasern ihrer Seele gebaut, und ihre Seele war tatsächlich der einzige Ort, wo sie je existiert hatte. Wie kam es nur, daß der Verlust von etwas, das es nie gegeben hatte, ihr die Tränen in die Augen trieb?
Turmfalke holte zitternd Luft. Ein elendes Gefühl der Leere machte sich in ihr breit. Sie hatte die Wahrheit seit Wochen gekannt, doch sie verleugnet, selbst als sie ihr ins Gesicht geschleudert wurde.
Zwei Tage lang hatte sie immer wieder Zeckes Stimme gehört… »Sonnenjäger! Diese Frau, mit der du zusammen bist, diese Turmfalke, wer ist sie?« Er hatte den Namen schon früher gehört. Sie hatte das einfach an der Art erkannt, wie er ihn ausgesprochen hatte. Und wie ein Dummkopf hatte sie die Warnung aus ihren Gedanken verdrängt.
»O Wolkenmädchen. Es tut mir leid. Es tut Mutter leid.«
Ihre Gedanken rasten. Sie erwog alle Möglichkeiten, suchte eine Zukunft, die ihr doch schon verwehrt war. Es war ein Fehler gewesen, sich auf den Weg zum Otter-Klan zu machen. Stechapfel hatte eines Tages merken müssen, wo ihr Ziel lag.
Warum bin ich nicht direkt nach Norden gegangen, nachdem wir den Großen Lorbeerrosenfluß überquert hatten? Wenn ich durch die Sümpfe gewatet wäre, hätte er unsere Spur niemals finden können, und jetzt wären wir schon im Land der Eisgeister.
Aber dann hätte sie Sonnenjäger nicht getroffen.
Selbst wenn Stechapfel sie heute nacht ermordete, würde sie es nicht bereuen. Aber was
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