Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
da.«
Stechapfels Gesicht verzerrte sich. Er blickte von Sumach auf das Kleine und wieder zurück. »Wessen Kind ist das?«
»Jetzt ist es meines.« Nach Atem ringend drehte Sumach sich um und lief zurück zum Pfad. Sie konnte Melisse und mehrere andere Dorfbewohner in Milans Nähe stehen sehen. Tannin, Stechapfels jüngerer Bruder, stand etwas weiter weg, außerhalb des Feuerscheins. Seine Miene wirkte undurchdringlich.
»Was meinst du damit, es ist deins? Wer hat es geboren?« fragte Stechapfel, der hinter ihr durchs Gebüsch brach.
Sumach humpelte aus dem Wald heraus auf die Wiese und warf das Baby Melisse in die Arme. Er blickte seine Frau erstaunt an, drückte das kleine Geschöpf aber fest an sich. Dann blickte er über Sumachs Schultern auf Stechapfel. Als das Kind unruhig wurde, wiegte Melisse es sanft so wie er in vielen Jahresumläufen Dutzende von Babys gewiegt hatte.
Sumach flüsterte: »Ich erkläre es dir später. Das Baby gehört jetzt zu uns.
Stechapfel trat in den bernsteinfarbenen Schein des Feuers. Die Hände an den Seiten hatte er zu Fäusten geballt. Sein Gesicht war zu einem häßlichen Rot angelaufen, als befürchtete er, man wolle ihn zum Narren halten. »Wem gehört das Baby?«
Melisse blickte Sumach an, und in seinen altersblassen Augen leuchtete Verstehen auf. Er nahm das Baby in den rechten Arm und ergriff Sumachs Hand. Seine warme Berührung beruhigte sie. »Dieses Kind gehört zum Otter-Klan«, antwortete er.
»Bedeutet das etwa, daß eine Frau aus eurem Dorf ihr Baby allein im Wald gelassen hat, mitten in der Nacht?«
Melisse antwortete ruhig: »Ich sage dir nur, daß dich das nichts angeht, Händler Stechapfel.«
Ein Gewirr von Stimmen erhob sich im Lichtkreis des Feuers wie ein Schwarm aufgeschreckter Vögel. Männer und Frauen flüsterten hinter vorgehaltener Hand und warfen Blicke auf das Baby.
Melisse beachtete sie nicht. Er humpelte den Pfad hinan auf die Hügelkuppe zu und zog Sumach mit sich. Sumach sagte ganz ruhig: »Ich glaube, es ist ihr Baby. Den ganzen Abend hatte ich ein merkwürdiges Gefühl. Ich glaube, sie war hier, hat ihren Mann gesehen und beschlossen, das Kind hierzulassen und zu fliehen.«
Melisse zog die buschigen, grauen Brauen über der Knollennase zusammen. Ein schwacher Silberschimmer vom Gesicht von Alter-Mann-Oben kroch über den östlichen Horizont und ließ den Himmel funkeln, als wäre er mit Diamanten übersät. Das Licht legte sich in Melisses Falten und ließ ihn unzählige Winter alt aussehen. Als er schnaufend und stöhnend den steilen Hang hinaufkeuchte, warf er Sumach einen liebevollen, wenn auch vorwurfsvollen Blick zu. »Dann muß Turmfalke gewußt haben, daß die Verwandten ihres Liebhabers Kindernarren sind.«
»Vielleicht.«
Ihre Brust weitete sich vor Freude. Sorgfältig setzte sie ihre Füße so, daß sie mit Melisse im Gleichschritt ging. Dadurch hatten sie beide mehr Halt. Vielleicht würde dieses kleine Mädchen die Lücke füllen, die Bergsees Tod in ihrer beider Seelen gerissen hatte. Sumach streckte eine Hand aus und zog dem Kind die Kaninchenfellkapuze über den Kopf, um es vor dem kalten Nachtwind zu schützen. Das Baby beobachtete sie unverwandt aus weit geöffneten Augen - merkwürdige Augen, sie waren so tief und leuchtend, daß sie mit dem Wissen der Ewigkeit gefüllt schienen.
Melisse hatte die Hügelkuppe erreicht und lief quer über das Gras auf das große Dorffeuer zu. »Wen wirst du bitten, das Baby zu stillen, Sumach?«
Sumach antwortete: »Gegen-Die-Wolken hat einen Sohn, der ungefähr im Alter dieses Mädchens ist.
Sie hat genug Milch für zwei. Sie jammert immer, sie hätte zuviel. Die Milch hat schon ihre besten Ledersachen verfleckt. Sie wird sich freuen, noch ein Baby stillen zu können.«
Melisse blieb beim Feuer neben seiner Teetasse stehen und reichte das Kind zu Sumach hinüber. »Du bist viel zu weichherzig. Wußtest du das? Wenn das hier die Tochter von Turmfalke ist, dann sollten wir besser nicht darüber reden.«
Sie hielt das Baby fest an sich gepreßt. Im Schein des Feuers konnte sie sehen, wie Melisses Augen einen sonderbaren Glanz annahmen. Sumach lächelte ihm zu und klopfte dem Baby den Rücken.
»Hast du Angst, daß du mit den umliegenden Dörfern einen Krieg führen mußt, um sie zu beschützen?«
»Nun, dann ist das der Weg der Dinge. Dieses Kind braucht ein Zuhause. Du weißt, daß man nicht zu viele Kinder haben kann. Ihr eine Familie zu geben wäre einen Krieg wert.«
»Ja«,
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