Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
sollte aus Wolkenmädchen werden?
Wieder wurde ihr Blick zu der Kuppe gezogen. Eine alte Frau war zum Rand des Hügelrückens gehumpelt. Sie stand mit vor der Brust verschränkten Armen da und blickte nach Westen in die Dunkelheit. Das Feuer warf einen bernsteinfarbenen Schein um sie. Auf ihrem verwitterten Gesicht lag ein besorgter, ja fast ängstlicher Ausdruck. War sie die Klanälteste? Eine Großtante oder Urgroßmutter von Eiskraut?
Heiliger Alter-Mann-Oben, wie gerne würde ich hingehen und fragen. Aber es ist unmöglich. Selbst wenn der Otter-Klan Wolkenmädchen und mich aufnähme, würde Stechapfel einen Weg finden, uns zu töten. Er würde sich in den Tiefen des Waldes verbergen und notfalls Jahresumläufe damit verbringen, uns aufzulauern. Irgendwann würde er uns erwischen, zusammen oder allein.
Erinnerungen zogen an ihr vorüber, Erinnerungen an Eiskraut, an Eulenfrau, an das Wacholder-Dorf.
Ihr Magen revoltierte. Sie erbrach sich lautlos. Ihr Körper zog sich immer wieder zusammen, bis er völlig entleert war. Schließlich lag sie bewegungsunfähig da. Ein trockenes Würgen quälte sie. Doch mit der Reinigung kam ein neues Gefühl, das ihr Entsetzen verjagte: Haß. Reiner, glühender Haß. Er erfüllte sie so, wie sich die Lunge eines Ertrinkenden mit Wasser füllt: Haß auf Stechapfel für all das, was er ihr und Eiskraut angetan hatte. Für das, was er Wolkenmädchen antun würde, wenn er die Gelegenheit dazu bekam.
Ein Gedanke stieg plötzlich mit furchteinflößender Klarheit in Turmfalke auf. Er fühlte sich an wie die Wirkung einer Geist-Pflanze im Blut. Ein Flüstern stieg aus dem Grunde ihrer Seele auf und führte und leitete sie. Mit äußerster Ruhe hob sie die Arme, nahm den Tragesack mit ihrem Baby vom Rücken und hängte ihn an einen vorstehenden Ast im Gehölz.
Ihre Tochter bewegte sich nicht. Der Kopf war zur Seite gesunken und ruhte auf der Kapuze aus Kaninchenfell. Der kleine Mund war geöffnet und ließ sie unschuldiger und verwundbarer aussehen als je zuvor.
Turmfalkes Augen füllten sich mit Tränen. Was auch immer ihr geschah, jemand vom Otter-Klan würde Wolkenmädchen finden und sie aufnehmen. Ja. Ja, natürlich werden sie sie aufnehmen. Kinder sind etwas Kostbares. Wer könnte diesem wunderschönen Gesicht widerstehen?
Sie strich mit den Fingern sanft an der Vorderseite von Wolkenmädchens Sack entlang und hielt über dem Herzen ihrer Tochter inne. Ich liebe dich, Baby.
Turmfalke zog sich auf den Ellbogen vor und arbeitete sich um Felsbrocken und Gestrüpp herum, bis sie freie Sicht hatte. Sie spähte an einem Kiefernstamm vorbei. Das war Tannin, der da mit untergeschlagenen Beinen neben Stechapfel saß. Er sah aus, als hätte er etwas Verdorbenes gegessen.
Sein Mund war angewidert verzogen. Turmfalke rief sich in Erinnerung, wie sanft und liebevoll Rufender Kranich gewesen war. Tannins Frau hatte sie immer nur mit Freundlichkeit behandelt. Sie vermißte Rufender Kranich.
Bitte, Mutter Ozean. Ich möchte Tannin nicht töten müssen. Rufender Kranich würde mich dafür hassen.
Turmfalke biß die Zähne zusammen. Sie legte einen Speer in den Muschelschalenhaken ihres Atlatls ein und glitt wie eine Schlange vorwärts.
Jetzt konnte sie Stechapfels Gesicht sehen. Es wirkte alt, entsetzlich alt. Seine Wangen waren noch schlaffer und sackähnlicher als früher, und die Haut unter seinem Kinn baumelte in dicken Faltenschichten herab. Doch sein Lächeln hatte sich nicht geändert. Es war hämisch und selbstsicher.
Ich werde dich töten, mein Mann. Heute nacht!
Turmfalke betrachtete prüfend seinen Rücken und suchte ein Ziel für ihren Speer. So, wie er dort im Schein des Feuers saß, würde er nicht einmal wissen, was ihn getroffen hatte. Der Speer würde die Rückenmuskulatur durchschlagen und in die Lunge eindringen. Stechapfel würde an seinem eigenen Blut ersticken.
Und Tannin würde sie verfolgen und töten.
Aber das war gleichgültig. Wolkenmädchen würde in Sicherheit sein.
Turmfalke kroch auf ein Gestrüpp von Zuckerbirken zu, hinter denen sie sich nicht mehr weit von Stechapfels Lager entfernt verstecken konnte - da ließ ein Geräusch hinter ihr sie erstarren. Irgend etwas rannte in rasendem Tempo durch die Büsche.
Mit weit geöffneten Augen starrte sie in die Dunkelheit.
Dann löste sich der Hund aus dem Schatten. Die rosa Zunge hing ihm aus dem Maul. Helfer! Als er näher kam, sah sie die feuchten, klebrigen Flecken auf seinem Fell, und dann nahm sie den
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