Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
zitterten, aber sie hielt den Kopf hoch und umklammerte den Haken an ihrem Atlatl.
Flüsternd drängten die anderen Dorfbewohner ihnen nach. Mit großen Augen starrten sie auf Sonnenjäger. Jemand in der Menge begann zu weinen. Melisse kam hinter Berufkraut her und fragte:
»Wie lange hat Sonnenjäger so gelegen, Enkel?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe Turmfalke im Wald gesehen und bin ihr gefolgt. Sie lief hinter Helfer her.
Der Hund hat uns beide zu Sonnenjäger geführt. Das Blut war noch nicht vollständig geronnen, daher vermute ich, daß er eine Weile vorher angegriffen worden ist.«
»Meinst du, daß es ein Bär war?«
»Es könnte ein Löwe gewesen sein, ein Säbelzahntiger oder sogar…« Berufkraut zögerte. Warum hatte er nicht schon früher daran gedacht? Der Gedanke erschreckte ihn so sehr, daß er die Worte kaum aussprechen konnte. »Oder ein Wolf, Großvater. Vielleicht ein Riesenwolf.«
Melisse schaute zu ihm auf und nickte. Sein Blick wurde finster. »Das hatte ich befürchtet.«
Sumach, die das leise Gespräch mit angehört hatte, flüsterte: »Er würde es nie wagen, Sonnenjäger anzugreifen. Oder doch? Woher sollte er so viel Mut haben?«
»Meint ihr Klebkraut?« fragte Turmfalke. »Sonnenjäger hat gesagt …«
»Pst!« Sumach schüttelte Turmfalkes Arm, um sie zum Schweigen zu bringen, und blickte über die Schulter auf eine andere alte Frau zurück, die nicht weit hinter ihnen herkam. »Yuccadorne ist eine von Klebkrauts Bewunderern.«
Das magere, häßliche alte Weib hatte den Kopf zur Seite geneigt und lauschte so aufmerksam wie ein Kojote, wenn er auf das Getrippel der Mäuse unter dem Schnee horcht. Turmfalke fragte sich, was sie wohl tun würde, wenn sie den wesentlichen Punkt ihrer Unterhaltung verstanden hatte. Würde sie Klebkraut von dem gegen ihn gerichteten Verdacht in Kenntnis setzen, damit er Zeit hatte sich auf seine Verteidigung vorzubereiten? Oder Zeit, sie alle zu töten, ehe sie ihn öffentlich der Hexerei beschuldigen konnten? Das Blut schoß heiß durch Turmfalkes Adern. Wer konnte wünschen, daß Sonnenjäger verletzt war? Sie würde den Bösewicht mit eigener Hand erwürgen.
Melisse beugte sich leicht nach vorn. »Später am Abend möchte ich mit dir darüber sprechen. Sobald wir uns um Sonnenjäger gekümmert haben.«
Turmfalke nickte. »Ich werde euch sagen, was ich weiß.« Und flüsternd fügte sie hinzu: »Und von Sonnenjägers Verdacht berichten.«
Sumach betrachtete Turmfalke nachdenklich. Nach kurzem Zögern fragte sie: »Warum warst du mit Sonnenjäger zusammen? Ich habe bisher nie erlebt, daß er sich mit einer Frau abgegeben hätte.«
»Er … er hat mich zu euch gebracht. Wir waren zuerst bei eurem alten Dorf und sind dann euren Spuren über den Strand bis zum Walbarten-Dorf gefolgt. Dort hat man uns gesagt, wo ihr euer neues Lager aufgeschlagen habt. Aber der Rest… Es tut mir leid, das ist eine lange Geschichte.«
»Ich möchte jedes Wort davon hören«, sagte Melisse, »später.«
Turmfalke fragte sich, warum sie nicht zugegeben hatte, daß sie ein Liebespaar waren. Sonnenjäger hätte nichts dagegen gehabt. Wovor hatte sie Angst?
Stechapfels Reaktion … Wenn er das wüßte … Er würde Sonnenjäger töten. Genau so, wie er Eiskraut getötet hatte. Der Haß gab ihr die Kraft und den Mut, an Stechapfel vorbeizugehen, als sie sich mit Berufkraut, der das Schleppgestell zog, hin zur anderen Seite des Feuers bewegte. Dort setzte Berufkraut die Bahre ab.
Die Flammen wärmten ihr Gesicht und ließen sie gleichzeitig erschauern. Die Frau, die Wolkenmädchen an der Brust hatte, saß nur zwei Meter von ihr entfernt, aber Turmfalke durfte ihr Baby nicht anschauen, sich nicht durch ihren Blick an Stechapfel verraten. Wenn sie auch nur einen Blick auf ihre Tochter warf, würden Liebe und Sehnsucht ihr das Blut in die Wangen treiben, und dann würde er genau wissen, wessen Kind Wolkenmädchen war: ihres und Eiskrauts.
Sumach nahm einen Jungen bei der Hand und befahl: »Hol mir meinen Beutel mit Geist-Pflanzen, Balsam! Und bring mir einen der Wasserbeutel.«
»Ja, Großmutter.« Er rannte los und schlüpfte in das nächstgelegene Zelt.
Berufkraut stand neben Turmfalke, nahm seinen Atlatl wieder vom Gürtel und legte in aller Ruhe einen Speer in den Haken ein. Er zwinkerte ihr ermutigend zu. Um sie herum drängten sich die Leute und versuchten, im Licht einen Blick auf Sonnenjäger zu erhaschen. Nachdem sie sich versichert hatten, daß er noch am
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