Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
in den Fettholzaufguß, um sich Sonnenjägers Brustwunden vorzunehmen.
Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie Milan sich zur anderen Seite des Feuers vorschob.
Haßerfüllt starrte er Turmfalke an. Da er den Kopf gesenkt hatte, lagen die Augen im Schatten seiner vorgewölbten Stirn. »Bist du Turmfalke«, fragte er, »Stechapfels Frau?«
Leise antwortete sie: »Das war ich.« Sorgfältig wusch sie jede Kratz- und Bißwunde auf Sonnenjägers breiter, muskulöser Brust aus.
»Hast du meinen Bruder getötet?« stieß Milan hervor.
Turmfalke sah ihn verständnislos an. »Deinen Bruder?«
»Büffelvogel. Er wurde auf dem Eichenbach-Pfad hoch oben in den Bergen getötet. Sein Mörder hat ihm ein Stilett aus dem Wadenbein eines Tapirs ins Herz gestoßen. Warst du es?«
»Ja, ich habe ihn getötet.« Turmfalkes Stimme hatte einen seltsam abwesenden Klang wie die eines Kindes, das aus einem Traum erwacht und noch nicht wieder ganz in dieser Welt ist.
Die Leute tauschten wütende Rufe aus. Ihre vom Feuer beleuchteten Gesichter zeigten Bestürzung und Verwirrung. Selbst Berufkraut drehte sich um und starrte sie ungläubig an.
»Melisse«, brüllte Milan, »sie hat den Mord zugegeben! Ich erhebe jetzt Anspruch auf diese Frau und verlange von euch das Recht, sie mit zu meinem Dorf zu nehmen, wo eine Versammlung des Schwarzwassertal-Klans ein Urteil über sie fällen wird!«
Diese Gefahr berührte Turmfalke nicht im geringsten. Solange Wolkenmädchen und Sonnenjäger in Sicherheit waren, war es nicht von Bedeutung, was mit ihr geschah. Sie machte ihren Schwamm wieder naß und beugte sich über Sonnenjäger, um sich seinen rechten Arm nochmals gründlich vorzunehmen. Diesmal weichte die dicke Kruste aus geronnenem Blut und Kiefernnadeln unter dem warm herabträufelnden Wasser auf und ließ eine tiefe Bißwunde erkennen. Sie war angeschwollen und hatte sich an den Rändern violett verfärbt, doch zu Turmfalkes großer Erleichterung fing sie nicht wieder an zu bluten.
»Einen Moment«, sagte Melisse. Er stellte sich direkt hinter Sumach. An Turmfalke gewandt fragte er:
»Warum hast du Büffelvogel getötet?«
»Er erklärte mir, daß Stechapfel eine Belohnung auf mich ausgesetzt habe«, antwortete sie. »Dann schleppte er mich zu seinem Lager. Dabei erzählte er mir, daß er und seine Brüder sich mit mir vergnügen würden - und daß, wenn ich doch nicht Turmfalke sei, er und seine Brüder mich nach der Vergewaltigung töten würden. Auf diese Weise würde der Otter-Klan niemals erfahren, daß einer seiner Angehörigen eine allein reisende Frau vergewaltigt und ermordet worden war. Mein Tod würde einen Krieg verhindern, sagte Büffelvogel. Es war Notwehr.«
Sumach warf Turmfalke einen wissenden Blick zu, und Turmfalke senkte den Kopf und biß die Zähne zusammen. Sumach schien zu verstehen, daß Stechapfel zwar auf Turmfalke, aber nicht auf Wolkenmädchen eine Belohnung ausgesetzt hatte. Erriet Sumach, daß Büffelvogel Wolkenmädchen nur als eine unnötige Last angesehen hatte? Es war gleichgültig. Turmfalke durfte Wolkenmädchen nicht erwähnen. Nicht einmal zu ihrer Verteidigung. Es hätte ihre Tochter in Gefahr gebracht.
Stechapfel stieß ein leises, ungläubiges Lachen aus, und Turmfalke gerann das Blut in den Adern.
Unwillkürlich begann sie wieder zu zittern. Die Muscheln an der Vorderseite ihres Kleides klapperten.
Sie spiegelten den Schein des Feuers mit erstaunlicher Kraft wider. Um sich zu beruhigen, tauchte Turmfalke den Schwamm ein und wusch Sonnenjägers wohlgeformtes Gesicht. Allein sein Anblick milderte ihr Entsetzen. Konnte sein Geist sie sehen? Möglicherweise ja. Sie spürte seine Gegenwart um sich herum wie einen Schutzschild. Dennoch konnte Turmfalke nicht aufhören zu zittern.
Ihre Angst gefiel Stechapfel, und er lachte hämisch. Herrisch schob er Tannin aus dem Weg und ging um das Feuer herum. Turmfalke zählte jeden seiner genau berechneten Schritte: fünf, sechs, sieben, acht, neun …
Berufkraut stellte sich mit dem Atlatl in der Hand schußbereit vor sie. Stechapfel betrachtete den jungen Mann wie ein Stück von Maden durchsetztes Fleisch., Aus dem Weg, Junge! Du hast kein Recht, mich von meiner Frau fernzuhalten!«
»Ich werde weggehen, wenn sie mich darum bittet«, entgegnete Berufkraut entschlossen.
Turmfalke schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter. Berufkraut kannte sie nicht, dennoch stellte er sich tapfer zwischen sie und den Tod. Eiskraut hatte mit dem, was er über den
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