Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
Reihe ausgezackter Felsspitzen, die sie an die ausgefransten Flügelspitzen einer Krähe erinnerten, ragte an der Kante des Spalts nach oben. Ihr Herz schmerzte vor Sehnsucht. Wenn sie doch nur auf Krähes Rücken klettern und hoch über der Welt dahinfliegen könnte. Hier unten in diesem Felsriß, der zum Fluß führte, konnte sie in ihrem Herzen die Schritte ihres Mannes hören. Furcht raubte ihr alle Kraft.
Wieder begann der Schmerz. Ein Stöhnen brach von ihren Lippen, und sie keuchte: »Bleib still! Geh vorwärts! Du mußt … vorwärts gehen.«
Als der schreckliche Schmerz nachließ, arbeitete sich Turmfalke Zentimeter für Zentimeter über den nassen Stein voran und stieg langsam den Spalt hinunter. Der Regen durchweichte sie bis auf die Haut.
Das abfließende Wasser umspülte ihre Mokassins bis zu den Knöcheln, so daß ihre geschwollenen Füße zu Eiszapfen gefroren. Sie hatte aufs Geratewohl ihr vorne aufgerissenes Kleid zusammengeknotet, doch bot es gegen die heftigen Windstöße nur wenig Schutz. Wie mit Nadeln durchdrang der Wind das durchweichte Antilopenleder.
»Und es wird noch viel kälter«, sagte sie und betrachtete, sich Mut zusprechend, den breiten, schlammgetrübten Fluß, der dort, wo der Felsspalt weiter unten auf das sandige Ufer traf, weiß schäumend vorbeischoß. Nach den heftigen Regenfällen war das Wasser über die Ufer getreten. Den Uferstreifen entlang hatte sich eine dicke Schicht schmutzigen Schaums angesammelt. Schilf, das normalerweise am Rande des Wassers stand, ragte nun vier Meter vom Ufer aus der Strömung. Die Schilfhalme streckten ihre zerfetzen Spitzen aus dem Wasser, als sehnten sie sich verzweifelt nach der warmen Berührung der Sonne.
»Vorwärts! Beeil dich, Turmfalke! Lauf… lauf!«
Sie mußte ihre erschöpften Beine zwingen, sie den Rest des Weges die enge Schlucht hinabzutragen.
Blitze zuckten durch die Wolken, gefolgt von Donnergrollen. Hinter dem Steilufer, auf der anderen Seite des Flusses, begann das von Schluchten durchzogene Land sich zu den Mammutbergen hin zu erheben, deren tiefblaue Gipfel Rillen in die weit entfernten Wolken zu kratzen schienen. Turmfalke blickte auf den Schleier aus weißem Schnee, der die Vorberge bedeckte, und hätte am liebsten geweint. Dort würde sie sicher sein. Doch noch konnte sie nicht losgehen. Nicht, bevor das Baby da war.
Sie mußte einen trockenen Ort finden.
Diese Tatsache jagte ihr einen Schrecken ein. Wie lange mochte die Geburt dauern? In der Menstruationshütte hatte sie immer gespannt zugehört, wenn die alten Frauen Geschichten von Geburten erzählt hatten, die Tage dauerten und Schwangere vor Schmerz fast verrückt werden ließen.
Sie erinnerte sich an die Erzählung über eine Frau, die Drillinge geboren hatte. Die Kinder waren tot zur Welt gekommen, aber die Schreie der Frau hatten vier Tage lang nicht aufgehört.
Tage!
Und jeder Moment, der Turmfalke aufhielt, würde Stechapfel näher bringen. Sie hatte versucht, immer auf felsigem Boden zu bleiben, damit ihre Mokassins keine Spuren hinterließen, aber drei Tage lang hatte sie fast nicht geschlafen, und eine benebelnde Euphorie hatte allmählich von ihr Besitz ergriffen.
Manchmal vergaß sie, wo sie sich befand und warum sie auf der Flucht war. Sie machte immer wieder Fehler - hier ließ sie einen Fußabdruck zurück, dort einen gebrochenen Zweig. Einmal, als sie bergauf gelaufen war, hatte sie sich an einem Beifußstrauch festhalten müssen, um nicht in den Schlamm zu fallen. Sie hatte die Blätter von den Zweigen gerissen …
Ihre Fährte würde für Stechapfel leicht zu lesen sein.
Als eine weitere Wehe einsetzte, krümmte Turmfalke sich und konnte den schrillen Schrei nicht unterdrücken, der sich ihrer Kehle entriß. »Nein! O nein, nein, nicht jetzt!«
Dem Schmerz nachgebend, hockte sie sich auf die Uferbank und stemmte ihre Hände zwischen den gespreizten Knien auf die Erde. Als die Wehe vorbei war, konnte Turmfalke nicht aufhören zu zittern.
Sie stand auf und schleppte sich nach Norden, den Großen Lorbeerrosenfluß entlang. Sie war als Kind hiergewesen und erinnerte sich daran, daß die Leute Flöße gebaut und sich in der Nähe eines faustförmig aus dem Wasser aufragenden Steins gesammelt hatten, der die engste Stelle des Flusses markierte. Wo war der Flußstein? Mit zusammengekniffenen Augen hielt sie nach ihm Ausschau, konnte ihn jedoch nicht entdecken. Vielleicht südlich, hinter der Flußbiegung? Damals schon war ihr die Floßfahrt
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