Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
ihm einen Ruck. Er schrie. Sie säuberte ihn nicht. Kurz danach floß die Nachgeburt auf den Boden. Turmfalke kauerte noch eine Weile tief atmend im Blut, bevor sie genug Kraft sammeln konnte, um aufzustehen. Ihre zitternden Beine waren schwächer als Herbstlaub. Sie hielt ihre Knie fest und bemerkte die wäßrigen Tröpfchen ihres Blutes, die sternenförmig auseinanderspritzend auf den Boden fielen.
Die ganze Zeit schrie ihre Tochter gellend und fuchtelte mit den winzigen Ärmchen in der Luft. Der Junge wimmerte leise in der Blutlache, in der er auf dem Rücken lag. Turmfalke nahm den Jungen auf und barg seinen Kopf an ihrer Brust. »Ruhig, ruhig, Baby«, flüsterte sie, während er trank. Das Gefühl des weichen Mundes an ihrem Fleisch versetzte ihr einen Stich. Sie stieß einen klagenden Laut aus und streichelte sanft seinen Rücken. Als das Kind genug getrunken hatte und ruhig in ihren Armen schlief, stand Turmfalke mit schmerzendem Unterleib auf und trug ihn zum Eingang der Höhle.
Der Wind war stärker geworden. Er wehte ihr das durchnäßte Haar als schwarzen Schleier vors Gesicht. Nackt und frierend stand sie da und beobachtete die weißen Schaumkronen, die im Großen Lorbeerrosenfluß auf und ab wogten. Sie versuchte, die Ohren gegen das laute Geschrei ihrer allein in der Höhle zurückgebliebenen Tochter zu verschließen.
Tu es, Turmfalke. Du mußt.
Der Sturm hatte etwas nachgelassen. Graue Regenschleier wogten, so weit man sehen konnte, doch hier am Fluß fiel nur ein leichter Nieselregen. Turmfalke konnte die nebelverschleierten Berge erkennen, die auf der anderen Seite des Flusses lagen. Sie bildeten nur ein dünnes, blaues Band unter einer wogenden See grauer Wolken.
Der Junge wand sich und zitterte, begann wieder zu weinen. Es brach ihr fast das Herz. Sie drehte sich um und spähte zu dem Felsspalt zurück, durch den sie zum Fluß herabgekommen war. Die Rinne glänzte feucht. In der Nähe kreiste eine Möwe und tauchte ins Wasser, bevor sie sich mit einer Muschel im Schnabel wieder hochschwang. Sie änderte die Richtung, schwebte im Gleitflug über die schlüpfrigen Felsen das Ufer entlang und ließ die Muschel fallen, so daß sie aufbrach und die Möwe sie fressen konnte.
Kein Mensch war zu sehen.
Aber Stechapfel würde kommen, das wußte Turmfalke.
Auf irgendeine Weise würde er sie finden - trotz des Windes und des Regens, der ihre Spuren verwischte, egal wie weit und wie lange sie vor ihm davonlief. Er würde sie finden.
Und mit zwei schreienden Babys hatte sie nicht die geringste Chance.
»Der Otter-Klan leitet die Abstammung über die weibliche Linie her«, sagte Turmfalke, als sie ihren Sohn in den Armen barg und auf das Felsband vor der Höhle trat.
Ihre Arme zitterten so heftig, daß sie das Baby fast nicht halten konnte, als sie den Wildpfad hinunterschritt. Schlammiges, braunes Wasser brauste unten vorbei, Wacholdernadeln trieben darin, Zweige und herumwirbelnde Grashalme.
Turmfalke kniete sich auf das sandige Ufer am Fuße des Steilufers und legte ihren Sohn vor sich nieder. Regentropfen sammelten sich wie Perlen auf seinem blutverschmierten Gesicht. Seine blauen Augen schienen sie zu suchen; unruhig bewegten sie sich. Er schrie und stieß mit den Beinen.
»O ihr Geister, bitte … Ich … ich kann das nicht tun!«
Turmfalke wurde von Schluchzern geschüttelt. Verzweifelt nahm sie das Baby wieder in ihre Arme und preßte es an sich. Sie wiegte es hin und her, um ihm die Angst zu nehmen. »Pst, es ist alles gut. Es ist alles gut, mein Sohn. Versuche zu verstehen. Ich liebe dich …«
Tränen schnürten ihr die Kehle zusammen. Für mehrere Sekunden konnte sie nicht sprechen. Eiskraut, du verstehst es, nicht wahr? Schließlich flüsterte sie: »Mein Sohn, dein Tod kann deiner Schwester das Leben retten. Und mir. Vergib mir …« Sie stieß die Worte nach Atem ringend aus. »Ich liebe dich so sehr.«
Turmfalke hob ihr Gesicht zu den Wolken und sang:
»Hört mich, Sternenvolk. Ich bete zu euch, kommt und holt diesen kleinen Jungen ab, wenn er ins Land der Toten kommt. Hört mich, Sternenvolk, ich bete zu euch, kommt. Bitte, paßt gut auf ihn auf.«
Sie legte den Jungen wieder auf den Sand, drehte sich um und ging kraftlos den Pfad hinauf zur Höhle.
Das von Panik erfüllte Schreien ihres Sohnes wurde schrill. Turmfalke rannte los, so daß ihr erschöpfter, gequälter Körper vor Schmerz aufschrie. »Oh, ihr Geister, helft mir! Macht, daß er aufhört zu schreien. Ich … ich
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