Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
kenne diesen Baum.
Zwei Jahre lang bin ich den Gerüchten nachgegangen, um ihn zu finden.«
»Gerüchte?« fragte Sternmuschel, als sie das Pulver vom Stößel kratzte.
»Ich hörte, daß Leute gestorben sind. Jeder weiß, daß Papayafrüchte köstlich schmecken, ihre Samen aber giftig sind. Ein kleines Mädchen hatte von den Samen gegessen, weil sie es nicht wußte.
Tagelang siechte sie dahin, ihre Seele hatte den Körper schon fast verlassen. Ich weiß nicht, ob ihr vielleicht in diesem Zustand ein böser Geist begegnete, jedenfalls drang etwas Schlimmes in die Seele des Mädchens. Die nächsten Jahre starben dann Leute an diesem Gift, und es stellte sich heraus, daß dieses Mädchen die Ursache aller Probleme war. Es hatte nämlich den Leuten, die es nicht mochte, die Samen ins Essen gemischt. Ich konnte das Mädchen dazu bringen, mir den Baum zu zeigen.«
»Ein nettes Kind«, meinte Sternmuschel. Sie kratzte das Pulver aus dem Mörser in die Schale einer Miesmuschel, die Langer Mann auch dabei hatte. Ihr fiel ein, daß man sich erzählte, der Zauberer habe einen Großteil seines Lebens in schlechter Gesellschaft verbracht.
»Arme alte Muschelschale.« Er untersuchte das Pulver. »Mir war nicht klar, wie verwahrlost sie schon ist. Sie hätte doch nie zugelassen, daß Läuse die Herrschaft über ihr Haus übernehmen. Sie war einmal sehr anspruchsvoll und verwöhnt.«
Nach einer Pause fragte Sternmuschel verlegen: »Sie hat mir erzählt, daß du der Vater eines ihrer Kinder bist.«
Langer Mann wandte sich ab und schüttete den Inhalt der Miesmuschelschale ins kochende Wasser.
»Da soll's aufbrühen und eine Weile ziehen. Dann können wir die Decken und unsere Kleider darin einweichen, und ein Bad im Bach wird uns helfen, anderes kleines Getier loszuwerden. Ich habe Walnußschalen dabei, damit reiben wir uns im Wasser kräftig ab, und dann haben wir unser Problem so gut wie gelöst.«
Sternmuschel deutete auf den abgenutzten Mörser. »Was ist mit dem Bodensatz? Man wird den Mörser wieder benutzen.«
»Brenn es aus. Der muß sowieso nachgeschnitzt werden.«
Sternmuschel legte den Stößel beiseite und betrachtete den Zwerg. »Besonderes väterlich kommst du mir allerdings nicht vor.«
Sternmuschel hob eine Braue, und er seufzte. »Ja, sie hatte ein Kind von mir. Behauptet sie jedenfalls.
Bei Muschelschale war es schwer zu sagen, welches Kind von wem war.«
»Sie behauptet auch, sie sei eine gute Liebhaberin gewesen.«
Langer Mann lächelte und strich sich übers Kinn. »Das war sie wirklich, darin war sie perfekt. Das war überall bekannt.«
Sternmuschel schaute zu den bewaldeten Hügeln. Ein Adler schwebte am blauen Himmel und verschwand dann hinter den Bäumen. »Bist du deshalb nicht bei ihr geblieben?«
Langer Mann starrte ins kochende Wasser. »Nein, das war es nicht. Ich… also, kurz gesagt, ich konnte nicht. Das ist alles. Manchmal bringen sich Leute selbst… du würdest wahrscheinlich sagen - in eine schwierige Lage. Ich war jung, verstehst du? Und sie war der Abendstern.«
Der Name verblüffte sie. »Ich hab das nur für ein Märchen gehalten.«
Langer Mann schaute zur Hütte. »Nein, junge Sternmuschel. Sie war die schönste Frau der Welt. Die Männer kamen von überall her, nur um sie zu sehen. Soviel ich weiß, sind mindestens vier Männer im Kampf um sie gestorben.«
»Sie sagte fünf.«
»Na gut, dann waren's fünf. Ist ja egal.«
Sternmuschel stützte die Hände in die Hüften. »Warum bist du nicht bei ihr geblieben? Sie hat gestern abend sehr liebevoll von dir gesprochen.«
»Sie war verheiratet. Aber das hätte sie nicht abgehalten. Nein, ich…«, er schaute bedrückt aus. »Ich habe etwas getan, was schon lange her ist.«
»So wie sie redete, könnte man glauben, daß sie etwas bedauert. Ihre Ehemänner haben vielleicht nie eine Rolle gespielt.«
»Nein, für sie nie.«
»Bist du also nicht bei ihr geblieben, weil sie nicht treu sein konnte?«
Langer Mann kniff die Augen zusammen und blinzelte in die Sonne. »Sternmuschel, du mußt verstehen, sie war wie eine duftende Blume. Sie zog die Männer an wie die Blüten die Bienen. Zu lieben und sich mit Männern zu paaren, war einfach ihre Natur. Es gibt Frauen, die haben Talent zum Töpfern, andere können wunderbar weben oder sind geeignet, Politik für den Clan zu machen, zu heilen. Abendsterns Talent war die Liebe, dafür hatte ihr das Schicksal die größte Kunstfertigkeit verliehen. Sie wußte intuitiv, wie man die
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