Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
ihren Glauben verstehen sollte, wenn man ins Jenseits geht. Denn wenn man das nicht tut, steht man im Abseits und wird verspottet!«
»Was würdest du also tun?« wollte Langer Mann wissen. »Du müßtest doch die Welt verändern.«
»Das würde ich auch - wenn ich könnte.« Sterngucker trat kräftig mit dem Fuß auf. »Aber man hat mich beraubt, Magier. Meine Schüler wurden mir gestohlen. Mein Volk hat man mir gestohlen. Was mein Volk glaubte, wurde mir weggenommen. Meine Zukunft wurde mir gestohlen. Und schließlich hat man mich noch des Augenlichts beraubt - meiner Fähigkeit, noch mehr von den Sternen zu lernen.«
»Du besitzt doch immer noch, was du weißt«, rief Sternmuschel. »Geh fort von hier. Geh nach Sternhimmelstadt und gib dort dein Wissen weiter!«
»Von hier fortgehen?« Er zeigte auf die Pfähle, die vom äußeren Wall aufragten. »Weißt du, was sie bedeuten? Jeder Pfahl ist mit einer Schnitzerei verziert. Wenn ich richtig stehe, Mädchen, trägt der rechts von dir einen Falkenkopf.«
»So ist es.«
»Er bezeichnet den Punkt am Horizont, wo der Falke während des Mondes nach der Tagundnachtgleiche im Herbst aufgeht. Und warum ist das wichtig, Mädchen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Unwissenheit, sie ist überall. Der Falke ist deshalb wichtig, weil bei seinem Erscheinen der Saft in den Bäumen aufhört zu fließen. Der schnelle Jäger warnt die Welt, daß der Winter naht.«
»Wir nennen diesen Tag den Tanz des Dachses«, antwortete sie. »Es ist der Tag, an dem das Auge des Dachses auf der südwestlichen Linie des Achtecks erscheint.«
»Siehst du«, sagte Langer Mann beschwichtigend, »es ist dasselbe Sternbild, nur der Name ist anders.«
Sterngucker wendete sich erbost in Sternmuschels Richtung. »Das ist es ja! Warum braucht alles einen anderen Namen? Sogar du, Zauberer, läufst mit einem wütenden Mädchen von den Plattformpfeifen herum, das nichts Nützliches lernt! Du bist so verdorben und gemein wie alle anderen.« Unsicher machte Sterngucker auf dem Absatz kehrt und schritt geradewegs auf das Häuschen an der nordwestlichen Seite zu.
»Deshalb geht er nicht fort«, sagte Langer Mann unglücklich. »Er kennt die Welt innerhalb des Kreises, mag er noch so einsam sein.«
»Er nennt mich wütend?« Sternmuschel warf das Beil von sich und dehnte ihren Rücken, um den Schmerz zu lindern. »Wenn er durchgemacht hätte, was ich in den letzten…«
»Langsam, junge Sternmuschel.« Langer Mann hob beschwichtigend die Hand. »Er hat es erlebt, genauso wie du. Für dich war es ein schneller Tod - es geschah alles im letzten Jahr. Für ihn ging es langsam und schleichend; er hat seine Welt über Jahre sterben sehen.«
Sie biß sich auf die Lippen und wandte den Blick ab.
»Er teilt deine Wut und deine Verzweiflung.« Langer Mann trat zu ihr, um ihre Hand zu streicheln.
»Im Unterschied zu dir hat er keine Möglichkeit, etwas daran zu ändern.«
Sternmuschel faßte nach der Hand des Zauberers. »So habe ich es nie gesehen.«
»Mama?« Silberwasser kam angerannt. »Am Wallgraben habe ich noch mehr Bäume gefunden.«
»Gut gemacht, Kaulquappe. Ich glaube, ich sollte…«
»Nein, laß.« Langer Mann drückte ihre Hand. »Nach diesem Morgen denke ich, daß der Ort so gut ist.
Er sieht den Horizont und die aufgehenden Sterne deutlich genug.«
Sternmuschel nickte, während sie sich in dem verlassenen Kreis umsah. Einst hatte sich hier das Zentrum der Macht befunden. Die Menschen hatten geforscht, gelernt und beobachtet. Hier war das geheime Wissen von den Sternen, dem Mond und der Sonne an die Jungen weitergegeben worden.
Nun hatten schon fast die Bäume alles zurückerobert. Das Zentrum des Wissen befand sich nun in Orten wie Sternhimmelstadt.
Und wie stand es um Sternhimmelstadt? Würde die Stadt auch irgendwann in Vergessenheit geraten wie Himmelsort?
Unmöglich! Das Ackerland war zu fruchtbar, die Lage am Zusammenfluß der Flüsse zu bedeutend. Sie hatte die Händler voller Ehrfurcht reden hören. Kein Ort der Welt besaß so gewaltige Erdhügel! Und der heilige Feuerstein würde für die Menschen immer wichtig sein. Sternhimmelstadt hätte ewig Bestand!
30. KAPITEL
Manche Sterne bewegen sich rückwärts wie ich.
Einen hellen, glühenden Stern habe ich einen ganzen Mond lang beobachtet. Er bildet die Spitze der langen Nase des Rennenden Dachses. Er kehrte seinen Lauf um, und es schien, als habe der Dachs seinen Kopf gereckt, um den funkelnden Bauch des Himmels zu überblicken.
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