Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
einen Wasserfall wie in deinem Traum kenne ich im Kupferland nicht.«
»Geh nicht fort!« Viertöter sah ihm in die Augen. »Es ist die Macht der Zwillinge, Bruder. Ich fühle es. Der Kummer über Rote Mokassins treibt dich vielleicht davon, aber ich will nicht, daß du gehst.
Jedenfalls solange nicht, bis wir wissen, was der Traum bedeutet. Vielleicht war es der Geist meines Onkels, der mir gestern nacht in meinem Traum zugewispert hat. Vielleicht war es eine Botschaft von den Toten.«
Otter suchte noch nach einer Antwort, als ein schriller Schrei ertönte.
»Onkel Otter!« Es war die Stimme von Kleine Schildkröte, der jüngsten Tochter von Rote Farbe, ein stämmiges Mädchen von etwa acht Sommern. »Onkel Otter! Schnell, du mußt kommen!«
Otter und Viertöter bückten sich und streckten instinktiv die Arme aus. Kleine Schildkröte hielt verwirrt an und schaute den Zwillingen in die Gesichter. »Onkel Otter?«
Viertöter lachte leise und ließ seine Arme sinken.
»Das bin ich«, erklärte Otter. »Du bist so außer Atem, sicher bist du den ganzen Weg vom Clanhaus hierher gelaufen.«
»Ja, das stimmt.« Sie nickte und lief in seine Arme. Sie trug ein Kleid, dessen Rock mit Muschelringen geschmückt war, deren Schalen in der Mitte durchbohrt waren und die ein Hanffaden zusammenhielt. »Du mußt sofort kommen. Großmutter hat mich geschickt. Weil's ein Fall von Not ist.«
»Ein Notfall? Was ist geschehen?« Er schaute auf und sah, daß Viertöter bleich geworden war. Die Offenbarung seines Traums war schon schlimm genug. Und jetzt das?
»Zwei Kanus, Kriegskanus, sind aus der Stadt der Toten gekommen. Mit alten Männern, wichtigen Männern. Clanälteste. Sie haben Grüne Spinne gebracht. Er will dich treffen.«
Otter runzelte mißtrauisch die Stirn. »Ich denke, Grüne Spinne ist tot?«
»War er auch«, erklärte Kleine Schildkröte mit aufgerissenen Augen, »aber er ist wieder lebendig geworden. Und er will dich treffen. Er hat Schwarzschädel mitgebracht. Die vier alten Männer sind auch gekommen, um dich zu sehen, Onkel Otter. Du mußt dich beeilen.«
»Schwarzschädel ist hier?« murmelte Viertöter ungläubig. »Um Otter zu treffen?«
Otter lächelte Kleine Schildkröte liebevoll an. »Und du bist sicher, daß du die Namen richtig verstanden hast? Vielleicht waren die Namen, die du gehört hast…«
»Nein!« Kleine Schildkröte machte sich frei und fuhr aufgeregt fort: »Großmutter hat mir die Namen gesagt. Und ich habe sie noch nie vorher so gesehen. Sie war furchtbar erschrocken, du weißt doch, dann zuckt's in ihren Augen, und der Mund steht offen. Sie hat mich gar nicht richtig angesehen, ich meine, sie hat mich nicht erkannt, als sie mich weggeschickt hat, um dich zu suchen. Und ich bin ihr Lieblingsenkel. Hat sie mir selbst gesagt.«
»Ich glaub's dir. Dann wollen wir uns mal beeilen. Kannst du mit mir den ganzen Weg zurücklaufen?«
»Das kann ich.« Kleine Schildkröte nickte.
Otter richtete sich auf und warf die Axt zu Boden. »Also dann. Los, komm, Bruder. Wenn's Grüne Spinne ist und dann noch Schwarzschädel, dann ist wirklich etwas passiert.«
»Mit dem Traum hat es angefangen«, brummte Viertöter. »Geister atmen mir die ganze Nacht ins Gesicht. Und du… du schwimmst tot im Wasser.«
»Wenn ich tanze, dann nur an Land«, scherzte Otter und lief voraus über das noch glimmende Feld.
Sternmuschel war an jenem Morgen aus dem Clanhaus der Blauenten in eine Welt von ursprünglicher, makelloser Reinheit hinausgetreten; eine Decke aus unberührtem Schnee hatte alles verzaubert. Der Himmel war tiefblau, die Luft frisch und belebend. Schneekristalle funkelten im Sonnenlicht. Der mächtige Grabhügel wirkte im Morgenlicht wie hinter feinem Dunst. Spuren führten nur auf den Tafelhügel, wo der Sternschamane den neuen Tag singend begrüßte.
Früher hätte Sternmuschel einen solchen Morgen mit entzücktem Staunen genossen. Aber heute war er ihr als Lug und Trug erschienen, als eine Illusion von Frieden und Schönheit nach einer Nacht schrecklichster Träume.
Als sie jetzt vor Langer Mann auf der Heiligen Straße marschierte, auf dem vertrauten Weg zu den Sonnenhügeln, erinnerte sie sich an dieses schöne Bild und versuchte, es in ihre Seele festzuhalten.
Vielleicht konnte sie davon zehren, um sich immer wieder klarzumachen, daß nicht alles nur Not und Angst war, und vielleicht gab es ihr die Kraft, auf einen Morgen zu hoffen, der nicht von Ängsten vor der Zukunft verdüstert
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