Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
war.
Sie drehte sich nach dem Magier um; sein Atem hing wie Dunstwölkchen im Schein der Nachmittagssonne. Sein kleiner Wuchs verwirrte sie, dauernd meinte sie, ihn beschützen zu müssen.
Dabei war er doch kein Kind mehr, sondern ein weiser Ältester.
In dieser Nacht würde es eisig kalt werden. Wenn ihr Vorhaben auf den Sonnenhügeln fehlschlug, wäre es möglicherweise sogar die Eiseskälte des Todes, die sie umfangen würde.
Langer Mann stapfte durch den Schnee und kam trotz seiner kurzen Beinen mühelos vorwärts. Die zwei Packen auf seinem Rücken hüpften bei jedem Schritt. Sein runzliges Gesicht drückte zufriedene Heiterkeit aus. Fühlte er nichts? Blieb seine Seele unberührt von den Ängsten und Schrecken, die ihre Seele peinigten?
»Wie kannst du nur so ruhig bleiben?«
Er blickte zu ihr, munter wie ein Eichhörnchen, und schaute dann über das weite Tal. Die meisten Bäume hier waren gefällt; einzelne Gehölze standen noch zwischen den Stoppelfeldern. Gedankenvoll sah der Alte über sie hinweg auf die dunkelgrauen Bäume, die im Hügelland wuchsen.
»Vermutlich, weil ich zuviel weiß«, antwortete er schließlich. »Es war ein schöner Tag, junge Sternmuschel. Die Reinheit des frischen Schnees läßt sogar die Werke der Menschen unwichtig scheinen.«
Sie befanden sich im Territorium des Gänsefußclans, eigentlich Freunden des Leuchtvogelclans. Aber von den Menschen, an denen sie vorbeigekommen waren, hatte keiner gewinkt oder ihnen einen Gruß zugerufen. Es war, als wäre ein dunkler Schatten über diese Seelen gefallen.
Sie folgten der Heiligen Straße zum breiten Mondmuscheltal und bogen ab, als der Fluß sich an der Straße entlangschlängelte. Der Schnee verdeckte die Fahrrinne; Binsen und Flußgräser an der Uferlinie zeigten an, wo sich Eis befand.
Sternmuschel konnte sich erinnern, wie der Fluß im Sommer aussah, breit und träge, die Uferhänge waren grün bewachsen. Der Mondmuschelfluß hatte sie von Anfang an in Bann geschlagen, aber jetzt gemahnte er sie nur noch an die Prüfung, die ihr bevorstand.
Der Pfahl, der den Übergang ins Gebiet des Leuchtvogelclans markierte, wirkte mit seiner Schneekappe wie ein Wachtposten.
»Wir sind da. Wir sind im Handumdrehen bei den Hügeln.« Sie konnte die Erdwerke sehen, glitzernd im Neuschnee. Selbst auf diese Entfernung sah man den Rauch aus dem Clangebiet aufsteigen. Zu viel Rauch für einen gewöhnlichen Wintertag. Viele Leute hatten sich auf den Sonnenhügeln zusammengefunden, und Sternmuschel konnte sich denken, warum.
»Es darf nicht zum Krieg kommen«, sagte Langer Mann ernst. »Ein Krieg wäre verheerend.«
»Wieso machst du dir darüber so viele Gedanken? Interessiert es die Langschädel wirklich, ob sich die Plattformpfeifen die Köpfe einschlagen?«
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Wer sind denn die Langschädel? Wie unterscheiden sich denn unsere Völker? Denk einmal nach, Sternmuschel. Unsere Völker sind doch miteinander verschmolzen wie das Wasser zweier Flüsse, die durch dasselbe Flußbett strömen. Könntest du sie auseinanderhalten? Die Clans heiraten untereinander, einige nach dem Ritual der Langschädel, andere nach dem der Plattformpfeifen. Wenn fünf oder zehn Generationen vergangen sind, können wir dann noch Unterschiede sehen? Selbst unsere Sprachen haben sich vermischt.«
Sie grübelte darüber nach. »Wenn es wirklich zu Kämpfen kommt, werden die Langschädel hineingezogen.«
»Du bist zum Teil ein Langschädel - und du bist schon hineingezogen worden.« Er knurrte mißfällig.
»Aber es geht ja um mehr. Alle Clans haben zwar ihre eigenen Territorien, sind aber alle voneinander abhängig. Natürlich gibt es manchmal Reibereien, aber sie werden auch wieder beigelegt, weil es sonst für alle zu viele Probleme bringt.«
Er stieß einen tiefen Seufzer aus und sagte resigniert: »Diesmal ist es anders - oder es könnte anders werden. Was geschieht denn mit uns, wenn jeder in den Krieg zieht? Der Handel käme zum Stillstand.
Wir brauchen einander. Wenn bei den Blauenten zum Beispiel eine Ernte ausfällt, schickt der Klapperschlangenclan seine Überschüsse, um den Verlust auszugleichen.
Aber da ist noch ein anderer Punkt zu bedenken. Wir bearbeiten Felder auf fruchtbarem Schwemmland, und dazu benötigen wir kleine, verstreut liegende Höfe. Und was geschieht, wenn ein Krieg ausbricht? Dann sind diese Höfe doch leichte Beute für die Kriegstruppen. Und was haben wir davon, wenn wir einen Sommer die
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