Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
das er geschlachtet hatte, um die Bäuche seiner Herren zu füllen, war Lehrmaterial für ihn gewesen. Er hatte gelernt, wie Waffen auf Knochen und Muskeln einwirkten, wie weich die Leber war und wie die inneren Organe zusammenhingen. Stein und Fleisch waren eng miteinander verwandt, wie Vettern, vielleicht sogar wie Brüder.
»Ja, Mutter, das habe ich gemeint.«
Trauertaube betrachtete prüfend sein Gesicht. Sie hatte ihn nie verstanden. Sie würde ihn auch nie verstehen; eine Frau wie sie, so gut und liebevoll, könnte nie die Tiefen des Hasses ausloten, der in seinem Innern angewachsen war wie eine große Schlange im Dickicht, die nur darauf wartet, zuzustoßen.
»Glaube ich nicht«, sagte sie. »Aber es ist möglich. Warum ? Glaubst du-«
»Ich glaube«, erwiderte er und senkte die Spitze, »daß sie vielleicht Gesellschaft braucht, wenn sie Sängerling sucht.«
»Du willst sie also begleiten?«
Schwalbenschwanz lächelte. »Ja. Sie braucht mich, Mutter.«
50. K APITEL
Kriecher strich sich das rote Hemd über dem Bauch glatt und versuchte, nur noch auf die dröhnende Stimme von Kräuterblüte zu hören. Sie, Federstein und Singdrossel standen östlich vom Grab, das man im Zimmer ausgehoben hatte. Sie waren weiß gekleidet, und Federsteins dunkelgraues Haar schimmerte im Licht, das durch das Fenster hinter ihr einfiel.
Spannerraupe stand links von Federstein, am Kopfende des Grabes. Der feine Gewandstoff wirkte prunkvoll an seiner hoch aufgeschossenen Gestalt. Er trug ein langes hellbraun-blaues Hemd mit kupfernen Glöckchen rings um den Hals. Sie klingelten, wenn er sich bewegte. Er hatte sein schwarzes Haar zurückgekämmt und zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengebunden, den eine prächtige Bein-Haarnadel mit Türkis-, Korallen- und Malachit-Einsätzen festhielt.
Dachsbogen, Gelbmädchen und der neue Kriegshäuptling Weißer Stein mit dem verwundeten Arm in einem braunen Tuch standen in einer Reihe neben Kriecher. Sie trugen alle Rot, die Farbe der Trauer und des Todes. Keiner von ihnen sah zufrieden aus. Kriecher zwang sich, in das schwarze Loch im Fußboden zu blicken.
Auf dem Grund lag Schlangenhaupt, das Gesicht nach unten. Niemand hatte seine Leiche gewaschen oder ihm die Haare gekämmt. Er trug noch das blutige Hemd, in dem er den Tod gefunden hatte. Sachen aus seinem Zimmer, die mit dem Makel seiner Verderbtheit behaftet waren, hatte man ihm ins Grab nachgeworfen: Türkis-Perlen, Muschel-Armbänder…
»Von diesem Augenblick an«, sagte Kräuterblüte und hob die verkrümmten Hände zur Decke, »wird Schlangenhaupt, der Verräter, hier in Krallenstadt in Finsternis eingesperrt sein. Er wird hören, wie ihn sein eigenes Volk verflucht, spüren, wie die Leute auf sein Grab spucken, und nun kann er über seinen herrschsüchtigen Wahnsinn nachdenken.«
Kräuterblüte nickte den Kriegern hinter dem Erdhaufen zu, und die Männer hoben eine große Sandsteinplatte hoch. Alle traten zurück, um ihnen Platz zu machen. Die Krieger schritten vor und ließen sie auf Schlangenhaupt fallen, jedoch darauf bedacht, den Schädel nicht zu zertrümmern. Kriecher rang ängstlich die Hände. Er hatte Schlangenhaupt gehaßt, aber diese Bestrafung jagte ihm kalte Schauer über den Rücken. Nachdem Schlangenhaupts Leiche nach Krallenstadt zurückgebracht worden war, hatten die Ältesten sein Zimmer durchsucht und zu ihrem Entsetzen eine Dose mit Leichenpulver entdeckt. Sie hatten Gemachte Menschen und andere Erste Menschen befragt und Dutzende von Geschichten über seine Verruchtheit zu hören bekommen. Am nächsten Tag hatten die Ältesten ihn offiziell als Hexenmeister verdammt. Kräuterblüte hatte verkündet, daß der Staubfleck in seinem Kopf sich zu einem wirbelnden Staubteufel entwickelt habe, der alles auf seinem Weg vernichtete, und daß es nur recht sei, wenn Schlangenhaupt in alle Ewigkeit über die begangenen Verbrechen jammern und klagen müsse.
»Gut. Jetzt deckt ihn zu.« Kräuterblüte gab den Kriegern ein Zeichen. Die zwei Männer kehrten zum Erdhaufen zurück und schaufelten die Erde zurück ins Grab.
Die Ältesten gingen nacheinander, Spannerraupe folgte ihnen, und zum Schluß wandten sich die Clan-Führer ab. Hier gab es keine heiligen Gesänge, keine Tänze, um sein Leben zu feiern. Niemand würde weinen oder sich die Haare abschneiden.
Schlangenhaupt war jetzt wahrhaft allein.
Kriecher ging als letzter; geduckt trat er aus der Tür ins helle Licht des Nachmittags. Krallenstadt funkelte
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