Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
nein«, sagte Distel und sprang auf die Beine. »Drohungen schrecken mich nicht, Fichtenzapfen. Denn ich lebe nur noch für eines: für meine Tochter, die ich großgezogen habe und aus ganzer Seele liebe.«
Sie wandte sich zum Hang, um zu Eichelhähers Lager hinunterzuklettern, und Fichtenzapfen sprang auf, um sie zurückzuhalten. »Nein, Distel, warte! Es tut mir leid. Ich lebe die ganze Zeit in großer Angst, und da … sag ich und tu ich manchmal Dinge, die ich hinterher bereue.« Er ließ ihren Arm los und legte die Hände auf die Hüften. »Also bitte, es tut mir leid.«
»Was geht hier vor, Fichtenzapfen? Was machst du hier? Ich habe immer gedacht, du bist deinem Volk zugetan.«
Er holte tief Atem, die Schulter- und Armmuskeln entspannten sich. »Das bin ich auch, Distel. Hör mal, Schlangenhaupt darf nicht die Gesegnete Sonne bleiben, sonst richtet er unser Volk zugrunde. Krähenbart war schon schlimm… aber sein Sohn wird noch schlimmer sein. Sollte Schlangenhaupt sterben, gefangengenommen und getötet von den Mogollon, wenn er seines Vaters Leiche die Straße nach Süden begleitet, dann wird das Volk des Rechten Wegs in seiner Trauer einig sein. Dann wird Schlangenhaupt ein Märtyrer sein und nicht der Despot. Nachtsonne kann einen anderen heiraten, der zur Führung geeigneter ist.«
»Und doch arbeitest du für Schlangenhaupt, sogar während du ihn betrügst?«
»Ich arbeite für mein Volk, nicht für Schlangenhaupt, und es ist ein gefährliches Spiel, das deine Anwesenheit hier heute abend noch gefährlicher macht.«
Distel kreuzte die Arme. Sie erschauerte und dachte nach. Sie mußte sehr glaubhaft erscheinen, sonst würden diese erfahrenen Krieger sie sofort als Lügnerin durchschauen. »Ich will dich etwas fragen. Schlangenhaupt hält Maisfaser in Krallenstadt als Geisel fest, nicht wahr? Er würde sie doch nicht im Trauerzug mitgehen lassen, oder?«
»Bestimmt nicht. Er würde sie sicher in Krallenstadt versteckt halten bis zu dem Augenblick, wo er sie vielleicht benutzen muß.«
Distel nickte. »Gut. Das habe ich mir auch gedacht.«
Fichtenzapfen fuhr sich durch sein schwarzes Haar und schaute mit zusammengekniffenen Augen über das schmale, von Feuern erleuchtete Tal. »Na schön. Hilf mir mal nachzudenken. Du hast recht. Ich muß Eichelhäher wegen Maisfaser Bescheid sagen. Aber wie? Das ist die Frage. Ich muß einen Weg finden, daß er mich nicht erst einmal töten läßt und sich erst später Gedanken macht, ob ich die Wahrheit gesagt habe.«
»Fichtenzapfen«, Distel legte ihre Hand auf seine, »ich werde es ihm sagen. Seit Maisfaser geboren wurde, bin ich ihre Mutter gewesen. Ich liebe Maisfaser aus ganzem Herzen, und ich bin sicher, auch Eichelhäher hat Rehkitz aus ganzem Herzen geliebt. Eichelhäher wird mir glauben, das verspreche ich dir.«
»Wenn nicht«, flüsterte Fichtenzapfen, »wittert er Verrat, und dann sind wir beide tot.« Distel nickte.
Fichtenzapfen stand auf. »Na gut. Bleib erst mal hier. Ich darf Eichelhäher nicht direkt ansprechen. Ich muß Heuler als Vermittler gewinnen.«
Nachtsonne ging in Eisenholz' Kammer auf und ab. Ihr blaues Kleid raschelte um ihre schwarzen Leggings, und ihre Ohrgehänge in Form von Kupferglöckchen klingelten leise. Ihr ergrauendes schwarzes Haar war zu einem langen Zopf zusammengebunden, der beim Gehen hin und her schwang. Der Abend war kühl, aber ihr Gesicht war dennoch von Schweiß bedeckt, den sie dauernd von ihren dunklen Augen wegblinzelte. Seit dem Wortwechsel mit Schlangenhaupt in der Frühe hatte sie sich in ihrem Zimmer versteckt gehalten und sich gescheut, vor Einbruch der Dunkelheit herauszutreten. Als die Plaza sich leerte, war sie zu Eisenholz' Kammer geeilt… aber er war nicht dagewesen. Er ist sicher bald zurück. Er muß bald zurück sein.
Sie fühlte sich zittrig und völlig verängstigt und wußte nicht, was sie sonst tun sollte… an wen sie sich sonst wenden sollte.
Das Sternenlicht, das durch den Dacheinlaß fiel, erhellte die leuchtend bunten Gesichter der Thlatsinas, die auf den Wänden tanzten der Bison zu ihrer Linken auf der Ostmauer, die Ameise im Süden, der Bär im Westen, der grimmig auf sie hinabschaute, und der Dachs, hochgewachsen und unberührt im Norden.
Nachtsonne öffnete ihre Seele und schaute flehentlich in das Gesicht des Dachses; schweigend bat sie ihn, ihr wundes Herz zu heilen und ihr einen Ausweg zu zeigen. Seine schwarze Maske, mit türkisbesetzten Augenschlitzen, dem Kopfputz aus
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