Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
blickte über den dunklen Hang. »Erhabene Geister wo ist Palmlilie? Er ist nicht hier, oder?« »Nein, Fichtenzapfen, ich bin allein«, sagte Distel. »Bitte, hör mich an. Mein Mann ist tot. Von Kriegern aus Krallenstadt umgebracht. Und deswegen müssen wir reden.«
»Tot?« fragte Fichtenzapfen leise. »Palmlilie ist tot?«
Distel sank auf den Stein, auf dem er gesessen hatte. »Die neue Gesegnete Sonne hat die Krieger ausgeschickt, um Palmlilie zu töten und Lanzenblattdorf zu zerstören. Mein Mann ist tot. Mein Sohn ist tot - und sein Kopf ist in Krallenstadt. Meine Schwester und meine Brüder sind tot. Mein Haus ist abgebrannt. Ich habe nichts mehr.«
Fichtenzapfen schaute wieder über den Hang, eine Falle fürchtend, und fragte dann: »Was machst du hier?«
»Ich war unterwegs zu den Gila-Monster-Klippen, um Eichelhäher zu treffen.«
Fichtenzapfen starrte sie an. »Weil du auch sterben willst? Willst du zu deinem Mann in den Unterwelten?«
Distel verschränkte die Finger im Schoß. In dem gedämpften Feuerschein glühte ihr gelbes Kleid rostrot-orangefarben. »Fichtenzapfen, wir haben nur wenig Zeit; ich erzähl dir alles, so schnell ich kann. Vor sechzehn Sommern gab Nordlicht Palmlilie ein Baby und sagte ihm, er solle es weit wegbringen und für immer verstecken.«
»Was für ein Baby?« fragte Fichtenzapfen mit gerunzelter Stirn.
»Es war ein kleines Mädchen, die Tochter einer Sklavin namens Rehkitz. Ich glaube, der Vater war dein guter Freund Eisenholz. Du erinnerst dich doch noch an Rehkitz? Man hat sie umgebracht, etwa zu der Zeit, als Palmlilie und ich von Krallenstadt weggezogen sind.«
Fichtenzapfen schüttelte den Kopf, aber dann besann er sich. »Ja, ja, Spannerraupe fand die Leiche auf dem Abfallhügel. Gleich nach den Sonnwend-Feiern…« Er kam heran wie ein Mann, der ein Feld von Klapperschlangen überquert, und setzte sich neben sie. »War Rehkitz nicht die Tochter von Eichelhäher?«
»Ja, Fichtenzapfen, das war sie.«
»Willst du mir etwa erzählen, Distel, daß du die Enkeltochter von Eichelhäher großgezogen hast?« »Genau das will ich dir erzählen. Und deswegen mußte Palmlilie sterben und auch mein Sohn, und Lanzenblattdorf mußte verschwinden, und ich -«
»Verschwinden?«
»Dem Erdboden gleichgemacht, Fichtenzapfen. Spannerraupe hat jeden umgebracht, den er erwischen konnte, Alte, Kleinkinder auf Wiegenbrettern -«
»Aber das ist doch Wahnsinn! Spannerraupe würde niemals -«
»Er hatte Befehle von Schlangenhaupt.«
Die Augen Fichtenzapfens verengten sich. Er setzte sich zurück und betrachtete die sechs Feuer und die Krieger, die davorstanden wie schwarze Gespenster. »Schlangenhaupt hat also Spannerraupe befohlen, die Enkelin von Eichelhäher zu finden? So ist es doch, oder?«
»Ja. Ich weiß nicht, wie Schlangenhaupt es herausgefunden hat, aber er war gewillt, jeden in Lanzenblattdorf umzubringen, um sie zu kriegen, und jetzt wird Maisfaser in Krallenstadt gefangengehalten. Schlangenhaupt -«
»Du meinst, er hat sie gefangengenommen? Er ist also nicht gekommen, um sie zu töten? Schlangenhaupt hat Spannerraupe geschickt, um das Mädchen gefangenzunehmen?« Er starrte sie mit aufgerissenen Augen an.
Distel nickte.
Fichtenzapfen saß regungslos. »Heilige Ahnen. Der hat sich ja ganz schön abgesichert. Hält das Mädchen fest für den Fall, daß Eichelhäher sein Versprechen bricht. Aber ich - ich kann nicht einfach rüber marschieren und ihm das melden. Es ist ohnehin schon zuviel Zeit verstrichen, und Schlangenhaupt ändert dauernd irgend etwas. Für Eichelhäher bin ich schon verdächtig. Als Verräter bist du in einer schlimmen Lage - keiner traut dir. Was erwartest du von mir, Distel? Nach all seinen Mühen, Schlangenhaupt herzulocken, wird Eichelhäher zunächst einmal denken, daß ich lüge, was das Mädchen betrifft, und dann wird er mich töten.« Schweißperlen rannen über seine Stupsnase. »Und wie komme ich überhaupt dazu, dir zu glauben?«
»Wenn nicht«, sagte sie ruhig, »und wenn dieser Angriff den Tod meiner geliebten Tochter und der Enkelin von Eichelhäher zur Folge hat, dann kannst du sicher sein, daß ich Eichelhäher erkläre, wer daran schuld ist. Daß ich hergekommen bin und dich um Hilfe gebeten habe, um sie zu retten, und daß du mich abgewiesen hast. Du hast mich nicht einmal mit ihm sprechen lassen.«
»Falls du noch am Leben bist, Distel.« Er klopfte auf den Hirschbeindolch an seinem Gürtel. »Ich schlage vor, daß du -«
»O
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