Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
Schlangenhaupt ließ den Vorhang fallen und sah sie an. Sie saß an der Wand neben dem Papageienkäfig, in den sie Sonnblumenkerne warf. Der Papagei saß auf der Stange und beobachtete sie mit tückischem Interesse, als wartete er nur darauf, seine Krallen in ihre glänzenden Augen zu schlagen.
»Es ist möglich«, sagte Schlangenhaupt. Er stellte sich vor sie. Schlamm hing am Saum ihres häßlichen braunen Kleides, und ihre feisten Wangen waren staubbedeckt. »Kriecher glaubt also wirklich, sie wäre das uneheliche Kind meiner Mutter, wie?«
»Ja, und Spannerraupe erinnert sich an das Mädchen in Lanzenblattdorf. Sie heißt Maisfaser.« Trauertaube klang müde. Schlangenhaupt hatte sie in aller Frühe aus Kriechers Bett gerissen. Der Führer des Bison-Clans war nicht besonders erfreut gewesen, hatte aber nicht gewagt, sich zu beschweren. Statt dessen hatte Kriecher sich angezogen und die beiden allein gelassen, wie von Schlangenhaupt gewünscht.
Schlangenhaupt lachte in sich hinein. »Ich hätte es wissen müssen. Nordlicht hat mir gesagt, es sei ein Junge gewesen, damit er ein Mädchen retten konnte. Aber wenn das stimmt, befindet sich meine Mutter in einer üblen Lage. Sie kann das Mädchen nicht anerkennen, sonst ist ihr Leben in Gefahr. Was aber noch interessanter ist: Eine echte Tochter von Nachtsonne würde die nächste Ehrwürdige Mutter von Krallenstadt sein.« Er rieb sich gedankenvoll das Kinn. »Wenn die Wahrheit als Licht käme, dann könnte das durchaus den Tod meiner Mutter zur Folge haben - und die Amtseinsetzung des Mädchens.«
»Als Ehrwürdige Mutter? Eine Frau mit dem Blut der Gemachten Menschen? Diesen Makel hat sie, Schlangenhaupt.«
»Das würde keinem gefallen, das ist wahr.«
Trauertaube betrachtete die Kerne in ihrer Hand, als könnte sie in dem Muster die Zukunft erkennen und fände sie bedrohlich.
Schlangenhaupt lächelte. »Ich weiß nicht. Glaubst du, ich könnte zusammen mit meiner Halbschwester regieren? Sie ist ein hübsches Ding und ist vielleicht einem kleinen Inzest nicht abgeneigt. Das würde -«
»Ihr würdet die Herrschaft nicht lange teilen«, sagte Trauertaube gehässig. »Sobald sie heiratet, kann sie dich stürzen und ihren Mann als Gesegnete Sonne einsetzen.«
Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. Er ging zu seinen zerwühlten Decken und ließ sich hineinfallen. Seine Blicke schössen hin und her. Eine Wärmeschale mit frischer Glut in der Mitte des Zimmers färbte die weißen Wände hellrot, und ihr Schein spiegelte sich mit gespenstischer Leuchtkraft in den bösen Augen des Papageis, dessen rote, blaue und gelbe Federn schimmerten. »Selbst wenn das Mädchen die Brut meiner Mutter ist - sie würde es nie anerkennen. Unmöglich, nach dem Täuschungsmanöver, das sie, Nordlicht und Düne in der Kiva während des Prozesses aufgeführt haben. Das würde die Ältesten des Rechten Wegs sehr erbittern, sie würden sie mit Sicherheit alle zum Tod verurteilen, und das würde Mutter ihrem geliebten Neffen nicht antun. Und auch nicht diesem alten Lügner Düne.«
Trauertaube warf den Rest ihrer Kerne in den Käfig und wischte sich die Hände an ihrem Kleid ab. »Vielleicht jetzt noch nicht, aber Düne wird bald tot sein, und deine Mutter und Nordlicht sind schon alt, über vierzig Sommer. Vielleicht leben sie noch zehn Sommer, aber was wird sich dann am Totenbett deiner Mutter abspielen? Hast du daran gedacht?«
Ein Gefühl der Angst durchfuhr ihn. Er wäre dann vierunddreißig Sommer alt und würde als der größte Häuptling verehrt, den das Volk des Rechten Wegs je gehabt hatte. Aber das wäre typisch für seine Mutter - ihn erst mühsam die Spitze erreichen lassen, um ihm dann den Boden unter den Füßen wegzuziehen, indem sie plötzlich eine uneheliche Tochter mit einem Ehemann ins Spiel brachte, oder selbst irgendeinen armen Schlucker aus einer Nachbarstadt heiratete.
Schlangenhaupt faltete die Hände im Schoß. Er lächelte Trauertaube an. »Eben deswegen«, sagte er vertraulich, »will ich dich in meiner Nähe haben.«
Maisfaser, neben dem Teekessel kniend, schenkte sich neu ein. Mit dem Dampf stieg das Aroma der Blütenblätter hoch. Sie probierte den goldenen Tee, und als sie sich den Mund verbrannte, blies sie sanft, um ihn zu kühlen. Dampf verwirbelte in zornigen Spiralen.
Ihre Blicke streiften durchs Zimmer, ruhten kurz auf ihren Beuteln und eingerollten Decken an der gegenüberliegenden Wand. Wenn sie nur wieder fort könnten, zurück zum
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