Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
wüßte, daß ich mit dir darüber spreche, dann würde er mir sehr weh tun.« Trauertaube warf einen ängstlichen Blick auf Schlangenhaupts Zimmer und flüsterte: »Bitte, laß mich gehen! Ich hab nicht viel Zeit.«
Spannerraupe schnickte mit der Hand. »Geh! Aber wenn du zurückkommst, dann werden wir miteinander reden!«
Sie rannte mit fliegendem Gewand durch das Tor den Pfad zur Senke hinunter. Als sie in der Schlucht verschwunden war, verkrampften sich seine Schultermuskeln. Alle anderen Sklaven hatten sich nahe dem Sklavenübergang gesammelt. Wieso wollte Trauertaube allein Wäsche waschen? Es ergab keinen Er hörte Schritte hinter sich. Stechmücke sagte gähnend: »Bin da, Kriegshäuptling, bereit für den neuen Tag. Und du? Bereit zum Schlafen?«
Spannerraupe drehte sich um und schaute den stämmigen, flachnasigen Krieger böse an, der einen Truthahnfeder-Umhang über seinem roten Hemd trug und sein schwarzes Haar zu einem Knoten zusammengeflochten hatte.
Stechmücke zog seine buschigen Augenbrauen zusammen. »Was ist los?«
»Bin gleich zurück.« Spannerraupe streifte seinen Bogen über die Schulter. »Paß inzwischen gut auf!« »Ist was nicht in Ordnung? Wohin gehst du? Was ist -«
Spannerraupe gebot ihm mit geballter Faust Schweigen. »Tu, was ich dir sage, Stechmücke. Laß keinen in die Stadt, den du nicht kennst. Klar?«
»Ja, natürlich.«
Spannerraupe ging durch den Einlaß und fiel in Laufschritt. Sein brauner Umhang schlug ihm in die Kniekehlen. An der Stelle, wo Trauertaube verschwunden war, ließ er sich fallen und kroch vorwärts wie ein Wolf, der eine Maus jagt. Der Geruch nasser Erde war sehr stark.
Das Flüßchen machte an dieser Stelle eine scharfe Biegung. Jedes Frühjahr brachen große Erdbrocken los, die hinunterfielen und das Flußbett immer mehr verengten. Dunst wälzte sich durch die Senke und quoll über die Ränder. Spannerraupe robbte auf dem Bauch weiter. Vollkommene Tautropfen hingen an den Grashalmen. Nebel umhüllte sein Gesicht. Er glitt weiter und spähte in den Wassergraben. Er konnte Trauertaube sehen, aber der Mann, mit dem sie sprach, stand mit dem Rücken zu ihm. Er ist ein Krieger, rot gekleidet.
Warum die Geheimnistuerei? Wenn Schlangenhaupt mit einem Krieger vom Rechten Weg sprechen wollte - warum rief er den Mann nicht einfach hoch in sein Zimmer?
Spannerraupe reckte sich, um ihre Stimmen zu hören, aber sie waren zu leise. Nach weniger als fünfzig Herzschlägen ging der Mann, ohne sein Gesicht gezeigt zu haben.
Als Trauertaube wieder aus der Senke heraufkam, wälzte sich Spannerraupe auf den Rücken und verhielt sich ganz still. Sie blickte nicht einmal in seine Richtung, sondern rannte auf dem Pfad nach Krallenstadt zurück, so schnell die Füße sie trugen. Spannerraupe wartete ab, nur so lange, bis sie - »Hallo, alter Freund«, sagte jemand leise, und Spannerraupe rollte sich blitzschnell zur Seite, kam auf die Beine und zog seinen Dolch, alles in einer flüssigen Bewegung.
Fichtenzapfen stand mit ausgebreiteten Armen vor ihm, die Hände leer. »Töte mich nicht, bevor wir miteinander geredet haben.«
»Fichtenzapfen?« flüsterte Spannerraupe ungläubig und betrachtete sein stämmiges Gegenüber. »Wir haben dich für tot gehalten. Wo bist du gewesen?«
Fichtenzapfen kam lächelnd näher. Seine Stupsnase war schmutzbefleckt, die schweren Mokassins waren abgenutzt. Das rote Hemd hatte bessere Tage gesehen, an den Säumen hing es in Fetzen. »Steck deinen Dolch wieder ein, und ich werde es dir erzählen.«
»Oh, tut mir leid«, sagte Spannerraupe lachend, »aber du hast mich erschreckt.« Er steckte den Dolch wieder in den Gürtel. Fichtenzapfen und er hatten viele Sommer lang Seite an Seite gekämpft; sie waren Kameraden… In diesem Augenblick tauchte das Bild von Palmlilie vor dem Auge seiner Seele auf, und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
Fichtenzapfen lächelte breit. »Heilige Götter, es tut gut, dich zu sehen.« Er trat vor, umarmte Spannerraupe und schlug ihm auf den Rücken. »Du bist jetzt Kriegshäuptling, nicht wahr?« »Ja«, sagte Spannerraupe, als er sich löste. »Aber Fichtenzapfen, was machst du hier draußen ? Du hattest Pflichten, du warst verantwortlich für -«
»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete er, »und ich habe nicht mal die Zeit, dir alles zu erzählen. Nur so viel im Augenblick, daß ich für die Gesegnete Sonne arbeite und daß meine Arbeit wichtig ist für das Überleben des Volks des
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