Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
»Ich gebe Befehl, daß du diesen Ort nicht verlassen darfst. Vielleicht können wir später miteinander reden, wenn deine Erinnerung wiederkommt. Bis dahin will ich, daß du darüber nachdenkst, wo deine Interessen liegen. Du kannst für mich arbeiten - oder gegen mich. Palmlilie hat gegen mich gearbeitet.«
Er erklomm die Leiter mit so viel Schwung, daß sie noch klapperte, als er sie verlassen hatte. Seine Schritte hallten über das Dach. Sie hörte, wie er jemanden anbrüllte.
Maisfaser atmete schwer. Sie starrte lange auf den Dacheinlaß. Dann schloß sie die Augen ganz fest.
41. K APITEL
Sängerling bemühte sich, die Kiva der Ersten Menschen nicht immerzu mit offenem Mund zu bestaunen. Allein die Größe der kreisrunden Zeremonialkammer, über hundert Hände im Durchmesser, überwältigte ihn. Die Kiva in Anemonendorf war etwa halb so groß und auch sehr schön, aber mit der Erhabenheit dieses Raums konnte sie sich nicht vergleichen. Die gelben, roten und blauen Bänke unter den weißen Wänden vermittelten ihm den Eindruck von etwas Wunderbarem, so als ob er, einfach indem er da stand, schon ein Teil der Welt der Götter wäre.
Er senkte seinen Blick und nähte das Leichentuch um Krähenbarts angeschwollene Leiche. Düne, hinter seiner Schulter, sah wohlwollend zu. Jenseits des Ganges nähte Nordlicht mit grimmigem Gesicht das Leichentuch für Wolkentanz. Das kleine Feuer, das im viereckigen Feuerkasten prasselte, warf einen tanzenden orangefarbenen Schein über die Thlatsina-Masken, die oberhalb der sechsunddreißig Nischen hingen. Sie schienen die letzten Vorbereitungen zum Leichenbegängnis mit Raubtieraugen gespannt zu verfolgen. Die scharfen Fangzähne und die polierten Schnäbel glänzten, und Sängerling spürte förmlich die leeren Augenhöhlen auf sich gerichtet.
Er zog den Faden durch das letzte Loch und verknotete ihn. Dann richtete er sich auf, die Knochennadel in der Hand. »Was soll ich jetzt machen, Düne?«
Der gebrechliche kleine heilige Mann hob das Kinn, spähte an der kleinen Nase hinunter auf die Naht. Krähenbart war vollkommen eingehüllt. »Das hätte ich selbst nicht besser machen können. Gute Arbeit.«
Nordlicht schaute von der türkisbesetzten Decke auf, die den Leichnam von Wolkentanz umgab. Er glättete die letzten Strähnen ihres Haares und schob sie unter die Decke, die er nun zunähte. »Krähenbart wird dir für deine Arbeit dankbar sein, Sängerling.«
Die Nadel zwischen den Fingern rollend, kämpfte Sängerling den Stolz nieder, der seine Brust auszufüllen drohte. Würde er immer wieder mit sich kämpfen müssen?
Dunes schütteres weißes Haar stand ihm struppig von seinem faltenreichen Kopf ab. Er war weiß gekleidet wie Nordlicht. Seit Tagesanbruch hatten sie alle schwer gearbeitet, und nun waren ihre Gewänder durchgeschwitzt; Dünes Hemd klebte an seinem knochigen Körper wie eine zweite Haut. Durch das Gewebe sah man die Rippen.
Düne wandte sich ab. »Da wir nun damit fertig sind, hilf mir bitte, die Bestattungsleitern zu segnen und zu reinigen.«
»Gern, Düne.«
Sängerling folgte Düne um die Fußtrommel herum zur Feuermulde, wo die zwei Leitern mit den Kiefernholzsprossen an der untersten, der gelben Bank lehnten. Vier kleine Töpfe mit Maismehl standen zwischen den Leitern. Düne ergriff einen und sagte: »Halt die Hände auf.« Düne schüttete kühles weißes Mehl hinein, setzte den Topf auf der gelben Bank ab und deutete auf die linke Leiter. »Reib das Mehl in die Leiter ein. Wir weihen das Holz für den Gang zur Bestattung und begütigen damit verärgerte Erdgeister, die den Baum, den wir für die Leiter gefällt haben, vielleicht bewohnt haben. Weißes Mehl symbolisiert den segenspendenden Osten und die Reinheit; es besänftigt alle verletzten Gefühle.«
Sängerling beugte sich nach vorn und rieb das fein gemahlene Mehl in die langen Seitenstangen der Leiter. »Soll ich es auch in die Sehnen reiben, mit denen die Sprossen an die Stangen gebunden sind?« »Ja. Und wenn du mit dem weißen Mehl fertig bist, nimmst du das rote Maismehl, dann das gelbe und schließlich das blaue. Wir verbinden die Farben der heiligen Himmelsrichtungen miteinander und vollenden so den Großen Lebenskreis, indem wir den Anfang mit dem Ende verknüpfen. Das Vergangene ist vergessen und vorbei. Alle Übeltaten sind vergeben. Krähenbart und Wolkentanz haben nun die Möglichkeit eines Neubeginns.« Er setzte sich auf die Bank und massierte weißes Mehl in seine Leiter
Weitere Kostenlose Bücher