Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
schönen, warmen Freudenfeuer?«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und stieß weißen Atem aus. »Er hasst dich. Am Ende wird er dich töten.«
»Vielleicht. Aber ich werde es ihm schwer machen.« Jaguar schob den Gedanken beiseite.
»Muschelkamm, ich bin ein alter Mann, und, um ehrlich zu sein, wenn ich noch weitere fünf Winter überstehe, dann ist es ein Wunder.« Er rieb sich die Knie. »Diese Gelenke haben nicht mehr die Spannkraft von früher. Ich glaube, ein Mensch fühlt sein Ende kommen.«
»Wie alt bist du?«
»Zu alt. Fast siebenmal zehn.« Er lächelte gedankenverloren. »Es ist doch sonderbar. Die meisten alten Menschen sehen mit einigem Glück viermal zehn Blätterblüten. Aber dann gibt es ein paar aus der Art geschlagene wie deine Mutter und mich, die offenbar ewig weitermachen.«
»Nicht jeder Altgewordene wird Ältester genannt mit der Ehrfurcht, die deinem Alter gebührt.«
»Das ist wohl richtig.« Er starrte hinaus auf die Felder, die kleine erdige Buckel aufwiesen, wo Mais, Bohnen und Kürbisse geerntet worden waren. Diese drei Pflanzen vertrugen sich gut, sie teilten sich die Erde und waren alle mit der Gesellschaft der andern zufrieden. Warum konnten die verschiedenen Stämme nicht gleichermaßen Rücksicht aufeinander nehmen? »Und einige andere wie die junge Rote Schlinge erreichen nicht einmal annähernd das Alter der meisten.«
Muschelkamm nickte und senkte den Blick. »Gestern Abend, am Feuer der Weroansqua, stellte Kupferdonner eine gute Frage. Was interessiert dich so an dieser Angelegenheit?«
»Die Angelegenheit mit Rote Schlinge?« Jaguar breitete die Hände aus. »Ich habe meine Gründe.
Außerdem bin ich ein schrulliger Greis. Die meisten halten mich für einen schrecklichen Zauberer. Ich kann ihre Denkweise nicht ändern und werde daher meiner Art und meinen Gründen folgen.«
»Du hattest einmal eine Tochter?«
»Nein. Eine … eine gute Freundin. Eine Geliebte. Aber sie war mir nicht bestimmt.«
»Ich habe nie einen Liebhaber verloren.« Sie schaute zur Seite. »Dies ist ein Schicksal, das ich mir erspart habe.«
Er presste die Ellbogen fest an seinen Körper. Es war wirklich bitterkalt »Dann wirst du also Kupferdonner heiraten?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß es noch nicht. Anfangs hielt ich es für eine gute Idee. Damit wäre das Bündnis gesichert. Aber jetzt bin ich nicht mehr so sicher.«
»Was höre ich? Vernünftiges von der unvernünftigen Muschelkamm?«
»Ist dies die Meinung der Leute?«
»Beantworte diese Frage selbst.«
Mit trüben Augen blickte sie über die Felder. »Sie haben wahrscheinlich Recht, Ältester. Wenn man der Verantwortung aus dem Weg geht, dann hat man das Problem, dass Okeus einen am Ende einholt.
Was wir auch tun, wir zahlen alle für unsere Fehler.«
Er nickte. Durch die Zeit zurückschauend sah er sie, diese großen dunklen Augen direkt vor sich, seine Hand, die über ihr schimmerndes, rabenschwarzes Haar und weiter über ihre Wange strich. Wie glatt ihre Haut gewesen war! Sein Herz mit dem Loch darin sehnte sich schmerzlich nach ihr, so wie es sich sein Leben lang nach ihr gesehnt hatte.
Muschelkamm seufzte leise, und Jaguar blickte auf. Welch anziehende Frau sie doch war, das Haar immer noch dicht und schwarz, die Haut beinahe faltenlos. Ja, er sah Rote Schlinge in ihr, eine überwältigende jüngere Ausgabe von Muschelkamm, die frohe Verheißung des Lebens noch nicht von Alter und Sorge getrübt.
Sie bemerkte seine Aufmerksamkeit und fragte: »Wie siehst du mich an, Ältester? Doch sicher nicht begehrlich?«
»Ich bin nur alt, Muschelkamm, nicht tot. Du bist eine hinreißende Frau.«
Sie änderte verlegen die Haltung und lächelte über das Kompliment. »Du schmeichelst mir, Ältester.
Aber ich frage mich: zu welchem Zweck?«
»Es gibt keinen Zweck. Wenn ein Mann eine schöne Frau nicht mehr bewundern darf - und sich sogar noch etwas dabei wünscht -, dann läge er doch besser auf der Plattform bei den anderen im Haus der Toten.« Er zögerte. »Lächle für mich, Muschelkamm. Sieh mir in die Augen und schenk mir dein innigstes, dein wunderbarstes Lächeln.«
Sie ging in die Knie, legte ihm die Hände auf die Schultern, sah ihm tief in die Augen und schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln, in dem ihre vollkommenen weißen Zähne aufblitzten. Nach einer Weile fragte sie: »Genügt es dir?« Eine Braue ging in die Höhe. »Oder willst du mehr?«
Er lachte in sich hinein. »Natürlich will ich mehr, aber
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