Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
werden? Hier wohnen und tun, was ich will? Bedeutet er dir so viel, Sonnenmuschel? Glaubst du so sehr an ›das Richtige^ dass du dich für deinen Freund opfern, dass du deinen Clan und deine Familie aufgeben würdest? Und wie steht es mit deiner Seele?« Jaguar lachte über den entsetzten Ausdruck des Mädchens. »Ah ja, ich verstehe. Aber es spielt keine Rolle.
Es war mir ein Vergnügen, mit dir zu sprechen. Morgen wird das Wetter besser sein. Geh jetzt! Und sag deinem geliebten Wilder Fuchs, dass ich ihm alles Gute wünsche.«
Wie ein Kugelfisch, der Wasser verliert, sank Sonnenmuschel in sich zusammen. Sie lag am Boden, der Umhang war über sie gebreitet.
Jaguar ließ von dem Schneckengehäuse ab und stand auf. »Ich gehe jetzt schlafen, Mädchen. Wenn dir dein Leben lieb ist, dann störe mich nicht. Übrigens, ich mache mich vor Sonnenaufgang davon. Dann ist das Wasser am ruhigsten.«
Jaguar ließ Sonnenmuschel am Boden liegen und betrat geduckt sein Haus. Er legte die Schnecke auf sein Lager. Dann ging er lautlos wieder hinaus in die Dunkelheit und glitt in den Wald. Im Schatten einer alten Eiche rutschte er in die Blätter am Boden, seufzte und versuchte zu schlafen. Aber die Worte des Mädchens ließen ihm keine Ruhe: »Ich werde es durch durch seine Augen sehen und mit ihm erleiden. Und mich fragen, wie und warum ein Mann eine Frau von ganzem Herzen lieben kann und dann für den Mord an ihr schuldig gesprochen wird. Wie wäre dir zumute, Ältester, wenn dir so etwas zustieße?« Warum war er so schroff gewesen? Weil sie in seine Seele geblickt hatte? Weil sie seinen Schmerz - und seine Scham - gespürt hatte?
Jaguar knurrte. Seine Gedanken überschlugen sich, und er fand lange keinen Schlaf.
Das Licht des Morgens hatte schon längst den Himmel grau gefärbt, und Jaguar lag immer noch unter den Blättern. Sonnenmuschel hatte genügend Zeit, um zum westlichen Ufer hinüberzupaddeln. Er lauschte den Vögeln und betrachtete die Wolkenfetzen, die am Himmel entlang zogen. Endlich wischte er die Blätter beiseite und erhob sich mühsam von seinem Lager.
Als er auf die Lichtung vor seinem Haus schlenderte, kniete Sonnenmuschel mit gesenktem Kopf vor der rauchenden Feuergrube.
Barsch rief er: »Was machst du hier?«
Sonnenmuschel wandte sich um, und Jaguar sah die mutige Entschlossenheit in jedem ihrer Gesichtszüge. Langes schwarzes Haar hing über ihrer Brust. »Ich habe die ganze Nacht nachgedacht, Ältester. Du hast Recht. Wenn etwas wirklich richtig und gerecht ist, dann muss ein Mensch bereit sein, alles dafür zu tun, um es durchzusetzen.« Sie sah ihn mit blanken Augen an. »Wenn du also für Wilder Fuchs sprichst, werde ich mich dir hingeben … und alles tun, was du von mir verlangst.«
Jaguar spürte, wie sein klopfendes Herz in seinen Magen fiel.
Neuntöter saß im mittleren Raum von Jagender Falkes Haus. Ein prasselndes Feuer spendete Licht.
Stiebende Funken und dünne Rauchwedel stiegen in die Kuppel über ihm hinauf. Das tanzende gelbe Licht warf Schatten auf die Stützpfosten, die hängenden Körbe, die Maiskolbenketten, die Kräutersäcke und die Menschen, die um das Feuer herum auf dem Boden saßen.
Das nagende Gefühl einer düsteren Vorahnung störte Neuntöters Verdauung; er hatte gerade ein vorzügliches Mahl aus Mais und Entenbraten genossen. Der Tod von Rote Schlinge beschwor großes Unheil herauf, dessen Ausmaß er nun allmählich begriff. Wer oder was zerrte da nur am brüchigen Gewebe seines Lebens?
Jagender Falke saß auf ihrem Platz auf der Matte hinter dem Feuer. Gebeugt beobachtete sie nachdenklich die tanzenden Flammen. Hatte ihr einst so scharfer Verstand nachgelassen? Hatte sie die Bedürfnisse und Interessen von Flache Perle falsch eingeschätzt?
Auf dem Ehrenplatz zu ihrer Linken saß Kupferdonner wie eine geölte Schlange; der Mord an seiner Verlobten schien ihn merkwürdig kalt zu lassen.
Neuntöter beobachtete Kupferdonner aufmerksam; der Mann schien beinahe belustigt über die plötzliche Unsicherheit, die den Grünstein-Clan quälte. Warum? Was steckte dahinter?
Rechts von Jagender Falke saß Muschelkamm; die Schönheit ihres Gesichts konnte nicht über ihr Leid hinwegtäuschen. Sie beharrte unbeirrbar darauf, dass Amselflügel und seine Krieger Rote Schlinge getötet hatten.
Neuntöter war beunruhigt. Seinen Gefühlen für Muschelkamm hatte er nie getraut. Ihre Schönheit hatte ihn immer verunsichert, und das verzehrende Verlangen nach ihr war
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