Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
Leute beobachteten sie und warteten auf eine Entscheidung. Durfte sie es wagen, ihn fortzuschicken? Okeus sei meiner Seele gnädig! Jede unglückliche Wendung im Schicksal von Flache Perle würde über mein Haupt kommen wie eine Steinlawine. Weise ihn ab - und wer weiß, welche Plagen er dir an den Hals hext?
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich will hören, was du zu sagen hast, Jaguar. Dann werde ich entscheiden. Du hast einen Tag, um mich zu überzeugen.«
Mit einer Handbewegung erklärte sie die Unterredung für beendet, deutete dann auf Neuntöter und sagte: »Du bleibst noch, Kriegshäuptling.«
Die Menge löste sich langsam auf. Die Menschen besprachen sich leise und warfen immer wieder furchtsame Blicke auf Jaguar, während sie davongingen.
Als sie allein waren, fragte Jagender Falke: »Also, was soll das alles, Häuptling?«
Neuntöter berichtete von den Ereignissen in Drei Myrten, ohne etwas auszulassen. »Und so brachte ich ihn her, Weroansqua.«
Jaguars Blick ruhte währenddessen unverwandt auf ihr. Sonnenmuschel beobachtete wachsam die abziehenden Dorfbewohner. Seit der letzten Blätterblüte war sie eine Handbreit gewachsen, aber noch fehlten ihr die fraulichen Rundungen. In ihrem grünen Gewand glich sie einer Weidengerte.
»Es scheint, als hätte ich dir für die Rettung meiner Krieger zu danken«, sagte Jagender Falke. »Aber ich will dich nicht hier haben.«
Jaguar seufzte und schaute zum Dorf hinüber, wo die Leute sich an der Palisade wieder in Gruppen versammelten. »Das kann ich sehr gut verstehen, Weroansqua. An deiner Stelle würde ich mich auch nicht hier haben wollen, aber ich bin nun einmal da. Zu Beginn wollte ich diese Aufgabe nicht übernehmen. Aber bald war meine Neugier erwacht. In dieser traurigen Angelegenheit gibt es allzu viel Unverständliches. Wilder Fuchs wird des Mordes verdächtigt, und es kann sich durchaus erweisen, dass er tatsächlich schuldig ist. Doch allzu viele Menschen mit gesundem Urteilsvermögen halten ihn nicht für den Mörder.« Er machte eine Pause. »Wie ist es mit dir, Weroansqua? Wer hat deiner Meinung nach Rote Schlinge ermordet - und warum?«
»Wilder Fuchs«, antwortete sie grollend. »Weil Rote Schlinge einem anderen versprochen wurde.«
»Dies ist zu einfach«, erwiderte Jaguar. »Ich habe mit Wilder Fuchs gesprochen. Meine Seele weigert sich, einen Mörder in ihm zu sehen.«
»Deine Seele?«, entgegnete sie. »Du lässt deine Seele urteilen? Ich habe gehört, dass sogar Tiere dir Geheimnisse verraten.«
Jaguar runzelte die Stirn, und Neuntöter erstarrte. O je, da hat sie einen empfindlichen Punkt berührt.
»Manchmal ja«, gab Jaguar zu. »Aber nicht in diesem Fall. Meine Krähen sagten mir zwar die Ankunft von Sonnenmuschel voraus. Auf die Frage, wer Rote Schlinge getötet hat, gaben sie jedoch keine Antwort.«
»Wie bedauerlich! Vielleicht solltest du sie noch einmal fragen und uns in Ruhe lassen.«
Jaguar schaute empor zu den letzten Sonnenstrahlen. Beiläufig sagte er: »Wenn sie die Wahrheit entdecken, werden sie kommen und sie mir mitteilen. Ich würde sie allerdings lieber selbst herausfinden.«
»Weroansqua«, schaltete Neuntöter sich jetzt ein. »Wir haben doch ohnehin genug Schwierigkeiten.
Wenn Jaguar Klarheit in die Sache bringen kann, dann lass es ihn versuchen.«
Mit bohrenden Blicken starrte sie ihn an. »Ich weiß nicht, welche Rolle du hier spielst, Häuptling.«
Neuntöter zog die Schultern hoch, als erwartete er einen Schlag. »Ich vertraue ihm, Weroansqua. Und du sagtest selbst, dass, wenn ich einen Weg fände, um einen Krieg mit Drei Myrten zu vermeiden, du damit einverstanden wärst.«
Ja, das hatte sie gesagt? Hatte im Namen des dunklen Gottes geschworen - und was hatte sie nun gewonnen? Sie befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge und wiederholte: »Ich gebe dir einen Tag, Zauberer.« Bei diesem Zugeständnis zog sich ihr Magen zusammen. »Aber ich will nicht, dass du innerhalb der Palisaden schläfst. Ist das klar? Häuptling! Du bist für ihn verantwortlich. Ich will ihn unter dauernder Beobachtung wissen.«
Sie wandte sich ab und stieß mit dem Sassafras-Stock wütend in den Boden. All dies versprach nichts Gutes. Es versprach überhaupt nichts Gutes.
Vier
Sonnenmuschel saß fröstelnd auf einem Baumstumpf. Es war eine klare, kalte Nacht. Ihr Atem war eine weiße Wolke. Sie hatten in der schmalen Baumreihe am Ufer des Flussarms südlich des Anlegesteges ihr Lager aufgeschlagen. Hinter
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